Das tibetische Orakel
Öffentliche Sicherheit verfügte über ganz eigene Methoden, jemanden das Wesen der Vergänglichkeit zu lehren.
Während Gendun sich wieder dem Wasser zuwandte, stand Lokesh plötzlich an der Seite des Fremden und zog ihn von dem Lama weg. »Wir erschaffen mit diesem Sand etwas Wunderbares«, flüsterte der Alte, dessen weiße Bartstoppeln im Mondlicht glitzerten. Er legte dem Mann beide Hände auf die Schultern, um sicherzugehen, daß der junge Tibeter ihm zuhörte und ihn ansah. »Wenn wir fertig sind, wird es die Welt verändern.«
Der Mann mit der schwarzen Mütze schaltete eine Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf Lokeshs Gesicht, als bezweifle er, den alten Tibeter richtig verstanden zu haben. Dann wurde der Rotorenlärm übermächtig laut. Der Fremde schaltete das Licht aus und warf sich zu Boden. Kurz darauf war die Maschine vorbeigeflogen. Sie hatte den Berggrat überquert, war aber zu schnell gewesen, um Soldaten absetzen zu können.
Der Mann mit der Mütze schaltete die Lampe wieder ein, murmelte etwas vor sich hin und warf einen anklagenden Blick auf die anderen Wachen, die sich mit einfältigen, beinahe peinlich berührten Mienen hinter Lokesh versammelt hatten. Nacheinander leuchtete er alle Gesichter ab und hielt schließlich bei Shan inne, um ihn stirnrunzelnd zu mustern. »Ihr sollt ein Artefakt abliefern«, sagte er zu Lokesh und klang dabei sehr ungeduldig. Die Lampe blieb auf Shan gerichtet.
»Das stimmt«, bestätigte Lokesh. »Wir treffen Vorbereitungen für die Reise.«
Er wies auf die beiden Lamas, die immer noch zu dem dunklen Fluß sprachen.
»Vorbereitungen?« spottete der Mann. »Was habt ihr denn während der letzten beiden Monate getrieben? Ihr trefft keine Vorbereitungen, ihr schlagt Wurzeln! Ihr werdet noch alles zunichte machen!«
Shan trat neben Lokesh und drückte die Lampe des Mannes nach unten. »Die Überbringer des Artefakts waren einverstanden, daß die Lamas über die angemessene Art der Rückführung entscheiden würden.«
Er wußte nun, daß der Fremde, genau wie diejenigen, die das heilige Artefakt in Shopos Einsiedelei gebracht hatten, ein purba war, ein Angehöriger der geheimen tibetischen Widerstandsbewegung.
»Du willst sagen, Drakte war einverstanden.«
»Drakte ist einer von euch«, stellte Shan fest. Er und Lokesh kannten Drakte seit fast einem Jahr. Damals hatte der Tibeter den Gefangenen des Arbeitslagers geholfen, in dem zu jener Zeit auch Shan und sein Freund ihre Strafe verbüßten. Vor zwei Monaten hatte Drakte sie unterwegs abgefangen und zu Shopos versteckter Klause geführt. »Wir werden aufbrechen, wenn die Lamas und Drakte dazu bereit sind. Er kommt, um uns den Weg zu zeigen. Höchstens noch ein paar Tage.«
»Wir haben keine paar Tage mehr«, klagte der purba. »Und rechnet nicht mit Drakte. Er hält seine Verabredungen nicht ein.«
»Wird er vermißt?«
Shan registrierte auf Höhe der Taille eine Ausbuchtung unter der Jacke des Mannes und drehte sich zu Gendun um. Falls die Lamas glaubten, der Fremde trage eine Waffe, würden sie darauf bestehen, daß er seiner Wege ging.
Der purba zuckte die Achseln. »Er war nicht da, wo er sein sollte.«
»Und statt seiner bist du gekommen?«
»Nein. Aber ich habe gehofft, ihn in dieser Einsiedelei zu finden. Es gibt Neuigkeiten. Und ich habe etwas mitgebracht, worum er gebeten hatte. Er sagte, die Lamas würden es benötigen. Er sagte, falls wir nicht einwilligen würden, es zu holen, würde er eben selbst gehen, notfalls den ganzen Weg bis nach Indien.«
Der purba ließ einen langen schmalen Sack von seiner Schulter gleiten und holte daraus eine knapp fünfzig Zentimeter lange Bambusröhre hervor, die Lokesh begierig in Empfang nahm.
»Was für Neuigkeiten?« fragte Shan.
Bevor der Mann antwortete, deutete er auf einen der Hirten und dann auf die Hügelkuppe, von wo aus die Wächter die jenseits gelegene Straße beobachtet hatten. Der dropka lief den Hang hinauf. »Ein Mann wurde getötet. Ein Beamter, in Amdo«, sagte er und bezog sich damit auf die einzige Ansiedlung dieser Region. Bis nach Amdo waren es ungefähr hundertfünfzig Kilometer. »Die Öffentliche Sicherheit wird das gesamte Umland absuchen und Leute in Gewahrsam nehmen. Im Zuge der Verhöre wird man von der Einsiedelei erfahren.«
Er schaute, wiederum stirnrunzelnd, zu den Lamas. »Ihr nennt das, was ihr da tut, vielleicht heilig, aber die werden es ein Verbrechen gegen den Staat nennen.«
Er machte einen Schritt auf
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