Sandor Marai
Über das Buch
»Die
Fremde«, das ist der große, leidenschaftliche Bericht eines eleganten Herrn:
Viktor Henrik Askenasi, Professor der orientalischen Sprachen, legt
Rechenschaft ab über das, was am Ende seiner nervösen, ja fieberhaften Suche gestanden
hatte. – In Übereinkunft mit seinen engsten Freunden und nicht zuletzt seiner
Frau Anna war Askenasi zu einer Reise an die dalmatinische Küste aufgebrochen,
um sich für eine gewisse Zeit aus dem gesellschaftlichen Leben in Paris
zurückzuziehen. Nun residierte er im ehemals prachtvollen Hotel Argentina, von
dem aus sich der Blick auf das ganze Halbrund der Bucht eröffnete. Sein Zimmer
war dunkel, und Askenasi erwachte erst spät am Morgen, setzte sich eilig an den
Tisch und schrieb drei Briefe: den ersten an die Tänzerin Eliz, den zweiten an
seine Frau und einen dritten an seinen Rechtsanwalt, der die Scheidung in die
Wege leiten sollte. Doch Askenasis Wahn treibt ihn zu einem weiteren,
endgültigen Schritt.
Glänzend
und so radikal wie in nur wenigen seiner Romane gelingt es Sándor Márai, von
einem Helden zu erzählen, den die Liebe in eine existentielle Verzweiflung
stürzt, über die er jedes Maß verliert.
Erschöpft
ist Christoph Kömüves mit seiner Frau von einer Gesellschaft heimgekehrt. Und
als sei die tiefe Unruhe, die an diesem Abend auf ihm lastet, nur eine unerklärliche
Vorahnung gewesen, erhält er überraschend Besuch von einem Gefährten aus
Jugendzeiten: Imre Greiner, dessen Ehe mit der schönen, verwöhnten Anna
Fazekas er am folgenden Morgen würde lösen müssen, bittet ihn sprechen zu
können. Kömüves ist dem Freund seit Jahrzehnten nicht mehr begegnet. Doch der
angesehene Arzt kommt ohne Umschweife zur Sache, und er sucht Antwort auf
eine Frage, die nur der Richter ihm geben kann.
Obsession
und existentielle Einsamkeit, emotionale Nähe und der Zerfall einer
Lebensordnung – unter der Vorahnung des Zweiten Weltkriegs verbinden sich in
Sándor Márais glänzendem Roman die Schicksale dreier Menschen auf tragische
Weise.
»Der Mensch
befreit sich nicht durch die Güte,
sondern durch die Sünde.«
Sándor Márai
Die
Originalausgabe erschien erstmals 1934 unter dem Titel »A Sziget«, eine
Neuausgabe erschien 2003 bei Helikon, Budapest.
ISBN-13: 978-3-492-04775-3
ISBN-10: 3-492-04775-0
© Heirs of Sándor Márai
Csaba Gaal, Toronto
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2005
38°C
Der Kaffee wurde unter bunten
Sonnenschirmen auf der Terrasse serviert.
Als erster
erhob sich der Wortführer und Spaßvogel der deutschen Tischgesellschaft von
der gemeinsamen Mittagstafel. Es war der stark schwitzende kahlrasierte
Porzellanfabrikant, der zwischen zwei Gängen mit Messer und Gabel auf dem Tisch
oder Tellerrand die neuesten Gassenhauer so stimulierend trommeln konnte. »Nimm
dich in acht vor blonden Frauen« , sang er in Manier und Tonfall der gerade
populären Filmschauspielerin, sooft die Herrin des Hauses, die strohblonde
Direktorin des Argentina , den Saal betrat. Die in geschäftlicher
Hinsicht versteckt bedeutungsvolle Anspielung rief jedesmal verdiente
Heiterkeit hervor.
Der
Porzellanfabrikant trug seine Sommertracht, gelbe Hose aus Segeltuch, offenes
kragenloses Sporthemd, das seine rotgebrannte, mit grauen Haaren bedeckte
gewölbte Brust zeigte, riemenartige, mit bayrischen Stickereien verzierte
Hosenträger, gelbe Hornbrille und weiße Kappe, wie eine possenhafte Verkleidung
in einer Laienvorstellung. In der Tür zur Terrasse, von wo man das Meer sehen
konnte, schauderte er regelrecht zurück. »Schon übertrieben«, sagte er in
seinem Telegrammstil, schnarrend, forsch und
so laut, daß man es bis in den Speisesaal hörte. Er schüttelte den Kopf und
blinzelte in Richtung Meer und Himmel, als würde er unvermutet Zeuge einer
Katastrophe.
Er wandte
sich dem Thermometer zu, das an den Türpfosten genagelt war, reckte sich
kurzsichtig, als könnte sein an irdische Größenordnungen gewohnter Blick das
Ende der kletternden Quecksilbersäule nicht erreichen, und las die Temperatur
halblaut, fast respektvoll ab. »Achtunddressig«, sagte er asthmatisch
stotternd, rhythmisch. Seiner Stimme war die Vorliebe des Jahrhunderts für
Rekorde anzuhören. Mit einem Tritt öffnete er die Glastür des Speisesaals und
rief: »Achtunddressig im Schatten.« Und als der unsichtbare Chor nicht einmal
auf dieses Alarmsignal reagierte, eher für sich: »Alle Achtung.« Plattfüßig
schlurfte er in seinen Tennisschuhen
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