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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Stunden lang mit den nagas , den Wassergottheiten, gesprochen hatten, war Gendun zu dem Schluß gelangt, Shan solle anfangen, den besonderen weißen Sand einzusammeln.
    »Lha gyal lo!« antwortete eine aufgeregte Stimme auf halber Höhe des Abhangs in ihrem Rücken. Es war einer der vier dropkas , der tibetischen Nomaden, die sie zum Fluß begleitet hatten und nun Wache standen und nervös die dunkle Landschaft beobachteten. Gendun und Shopo waren rechtlose Mönche bei einem verbotenen Ritual, und die Zahl der Patrouillen hatte in letzter Zeit deutlich zugenommen.
    Ohne die Bewegung auch nur vorausgeahnt zu haben, tauchte Shan die Hand erneut ins Wasser, und als er sie herauszog, war sie abermals mit dem weißen Sand gefüllt. Im Halbdunkel sah er, daß Lokeshs Augen sich weiteten und erwartungsvoll funkelten, während Shan langsam die Bewegungen wiederholte, die Gendun ihm gezeigt hatte. Er wusch den Sand im Mondlicht und leerte dann seine Hand in das Gefäß.
    Genduns Gesicht legte sich lächelnd in kleine Falten. »Jedes der Körner ist die Essenz eines Berges«, sagte der Lama, als er Shans Hand ein weiteres Mal ins Wasser tauchte. »Mehr bleibt nicht übrig, wenn der Berg seine Hülle abgelegt hat.«
    Shan hatte diese Worte im Verlauf der letzten beiden Monate bestimmt ein dutzendmal gehört. Immer wieder waren er und seine Gefährten in die Nacht aufgebrochen, um an Orten, die nur Shopo und die Hirten kannten, Sand einzusammeln. Jeder der hohen Gipfel am Horizont würde zu solch einem Korn reduziert werden, wenn der Zeitpunkt dafür komme, erläuterte Gendun, und genauso würde es allen Bergen, allen Kontinenten und allen Planeten ergehen. Alles würde enden, wie es einst begonnen hatte: als winziger Same, und das Menschengeschlecht in all seiner Herrlichkeit könne sich niemals mit der Macht vergleichen, die sich in einem einzigen Sandkorn spiegele. Die Worte sollten ihn das Wesen der Vergänglichkeit lehren, wußte Shan, und den nagas Respekt bezeugen, von denen sie den Sand entliehen.
    Er vernahm ein fernes Trommeln, und der Mond schien sogar noch näher zu rücken, während Shan die nächste Handvoll Sand aus dem Fluß holte. Er streckte den Arm nach dem Gefäß aus, erstarrte aber mitten in der Bewegung, weil ein hektischer Aufschrei die Stille durchbrach.
    »Mik iada! Vorsicht! Lauft!«
    Es war einer der dropka -Wächter auf dem Grat über ihnen. »Das Feuer! Löscht das Feuer!«
    Shan hörte hastige Schritte auf dem Geröllhang und sah dort im Mondschein die Silhouetten zweier Männer, während er im selben Moment begriff, daß das Trommeln nicht nur in seinem Kopf existierte. Es war das Geräusch eines schnellen Helikopters im Tiefflug, wie es meistens dann erklang, wenn die Öffentliche Sicherheit tibetische Lagerplätze stürmte.
    Einer der Posten, der eine schwarze Wollmütze trug, rannte zum Ufer, rüttelte vergeblich an Lokeshs Schulter, lief weiter zu Shan und zerrte ihn am Kragen. »Ihr müßt diesen Gott erneuern!« rief der Mann. »Laßt uns fliehen!«
    Shan ließ sich auf die Beine ziehen, warf einen Blick in Richtung des Hubschrauberlärms und erschrak, denn die Lamas lächelten nur und bezeugten dem Fluß weiterhin ihre Ehrerbietung. Gendun und Shopo waren daran gewöhnt, für die Ausübung ihres Glaubens eine Verhaftung zu riskieren. Und obwohl Shan und der dropka wegen der immer häufigeren Spähtrupps beunruhigt sein mochten, war für Gendun nur ein einziges Mysterium von Belang: das Rätsel um die Formung und Stärkung der Seele.
    »Falls das die Öffentliche Sicherheit ist, wird man Soldaten auf der Kammlinie absetzen und uns umzingeln!« stöhnte der Wächter und trat das kleine Feuer aus. »Sie werden Maschinengewehre haben und außerdem Geräte, mit denen sie in der Nacht sehen können.«
    Shan nahm den Posten mit der schwarzen Mütze argwöhnisch in Augenschein, denn diese Bemerkungen über chinesische Waffen und Taktiken klangen nicht nach einem gewöhnlichen Hirten. Dann erkannte Shan auf einmal, daß er den Mann noch nie gesehen hatte und der Fremde gar nicht zu ihrer Eskorte gehörte.
    Gendun hob einen Finger an die Lippen und deutete auf das Wasser. »Da sind nagas« , stellte er ruhig fest.
    »Der Sand wird nichts nutzen, falls man euch verhaftet«, flüsterte Shan und legte Gendun die Hand auf die Schulter.
    »Da sind nagas« , wiederholte der Lama.
    »Es ist doch nur Sand«, widersprach der Fremde und schaute gequält in Richtung des Helikopters, der sich näherte. Die

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