Das tibetische Orakel
mitnehmen zu lassen. Eines Abends wurde der Laster, in dem sie saßen, plötzlich durch einen Pferdewagen gestoppt, den man quer auf die Straße gestellt hatte. Mehrere junge Männer sprangen zwischen den umliegenden Felsen hervor und rannten nicht etwa auf den Fahrer, sondern auf die Ladefläche zu und umringten Shan und Lokesh, bevor die beiden auch nur an eine Flucht denken konnten. Shan erkannte Drakte sofort wieder, einen hochgewachsenen schlanken Tibeter mit einer doppelt geschwungenen Narbe auf der Stirn. Die Verletzung stammte von einem Überfallkommando der Kriecher, das sich die Schlagstöcke mit Stacheldraht umwickelt hatte.
»Wir haben nach euch gesucht.«
Drakte bedachte die beiden Männer mit einem verdrießlichen Blick, als wären sie ihm absichtlich aus dem Weg gegangen.
»Wir waren auf einer Pilgerfahrt«, erklärte Lokesh fröhlich. »Und nun kehren wir nach Hause zurück, nach Lhadrung.«
»Nein, das werdet ihr nicht«, widersprach der purba. Dann redete er kurz mit dem Fahrer und gab ihm eine khata , einen Gebetsschal. Der Mann fuhr weiter, und Drakte bedeutete ihnen, in einen kleineren Lastwagen einzusteigen, der hinter einem großen Felsen zum Vorschein kam.
Drei Tage lang rollten sie durch die zerklüfteten Berge und Täler nordwestlich von Lhasa, umgingen auf Straßen, die kaum mehr als ausgetretene Wildwechsel waren, die Stadt Shigatse, fuhren dann nordwärts durch kleine öde Dörfer und weiter auf die Changtang-Hochebene, bevor sie sich bei der Bergbaustadt Doba nach Osten wandten. Abends am Lagerfeuer sprach Drakte über seine geliebte Changtang und viele andere Dinge, aber niemals über den Anlaß oder das Ziel dieser Reise. Am vierten Tag wurden sie in einer Schlucht bereits von einem berittenen dropka mit zwei weiteren Pferden erwartet. Drakte sah Shan mit seltsam sehnsüchtigem Blick hinterher.
»Ihr tut dies für uns alle«, sagte der junge purba zum Abschied. »Wenn es soweit ist, werde ich kommen, um euch den Weg zu zeigen«, versprach er, und Shan glaubte, in seinen Augen so etwas wie Freundschaft aufflackern zu sehen.
Der Ritt dauerte zwei Tage. Auch der dropka verlor kein einziges Wort über ihren Bestimmungsort, bis sie schließlich einen hohen windumtosten Bergrücken erklommen und in einer kleinen Senke einige halbzerfallene Gebäude aus festgestampfter Erde und Steinen sahen. Drei der größten Bauten hatte man mit Sperrholz, Blechen und Pappe provisorisch wieder instand gesetzt. Im Innern des gedrungenen Steinhauses, das die lhakang beherbergte, stießen sie auf Gendun. Zusammen mit einem Lama mittleren Alters und einer Frau saß er am Altar vor dem gezackten Auge und las in langen schmalen Textblättern, den losen Seiten eines traditionellen Lehrbuchs. Gendun, den Shan zuletzt vor mehr als vier Monaten gesehen hatte, Hunderte von Kilometern entfernt im westlichen Kunlun- Gebirge, begrüßte ihn mit einem heiteren Lächeln und bedeutete den beiden Neuankömmlingen, sich auf die freien Plätze neben ihm zu setzen, als hätte man ihre Ankunft erwartet. Erst mehr als zwei Stunden später, während man ein Mahl aus gerösteter Gerste und Buttertee zubereitete, stellte Gendun ihnen Shopo und Nyma vor, eine stämmige Frau von etwa dreißig Jahren.
Nyma platzte sogleich mit einer aufgeregten Begrüßung heraus. »Wir haben so lange gewartet«, rief sie, »und nun seid ihr endlich gekommen. All diese Jahre.«
Sie seufzte laut auf.
»Jahre?« fragte Shan verwirrt und musterte das ledrige Gesicht und die breiten Schultern der jungen Frau. In anderer Kleidung hätte er sie für eine dropka gehalten. »Die purbas haben uns erst letzte Woche gefunden.«
Die Nonne lachte und deutete auf die lhakang. »Es ist vor vielen Jahrzehnten verlorengegangen - es wurde gestohlen und als Trophäe außer Landes geschafft.«
»Das Auge?« fragte Shan, dem einfiel, was er auf dem Altar gesehen hatte. »Dieses abgebrochene Stück Stein?«
Nyma nickte begeistert und schaffte es kaum ihre Gefühle zu bändigen. »Es stammt von der Gottheit, die unser Tal beschützt. Erst vor fünf Jahren ist es nach Tibet zurückgekehrt, und erst vor ein paar Wochen wurde es aus Lhasa befreit«, sagte sie, als habe der Stein sich im Gefängnis befunden. »Wir haben gewußt, daß er sein Auge zurückbekommen muß, und wir waren ganz sicher, daß es irgendwann heimkehren würde. Bislang konnte niemand ihm den Weg weisen. Jetzt haben wir euch. Was er alles sehen wird«, fügte sie unheilvoll hinzu. »Und was er
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