Das Tibetprojekt
zu wissen.
Li Mai verstand. Da lief ein Deal im Hintergrund, den sie nicht kannte. Und da gab es noch eine Aufgabe, die sie erfüllen
musste und von der Tang nichts zu wissen brauchte.
Sie spielten das Spiel der Spione. Beide waren schon eine ganze Weile in diesem Geschäft und kannten die Regeln: Leben und
leben lassen.
Was Tang Wu in den Potala Palast gebracht hatte, war in der Tat ein wenig komplex: Stahlmann, der verschwiegene
Butler
des deutschen Botschafters, hatte von Gunther |380| Göritz erfahren, dass eine Kommandoeinheit des Mossad überraschend in Lhasa gelandet war. Der Attaché hatte daraufhin umgehend
Tang Wu kontaktiert und die sofortige Rettungsaktion im Potala im gegenseitigen Interesse empfohlen. Das Timing war also perfekt.
Und Stahlmann hatte dem Generalmajor auch einige gute Gründe genannt, warum die Aktion genauso ablaufen musste, wie er sie
geplant hatte.
Erstens: Er, Stahlmann, würde dafür sorgen, dass der buddhistische Killer daran gehindert wurde, Decker und Li Mai zu ermorden.
Die offizielle Version sollte sein, dass Tang Wu das deutsch-chinesische »Forscherteam« rettet. Das macht ihn zum Helden des
Volkes. Dass es sich bei Li Mai um eine Tochter des Staatspräsidenten handelte, war noch eine besonders pikante Information
nebenbei und machte die Sache noch wesentlich attraktiver.
Nicht ganz so attraktiv war die zweite Bedingung des
Butlers
: Alle Forschungsunterlagen werden vernichtet. Der Gokang hat nie existiert, und er wird auch nie wieder gesucht. Im Gegenzug
wiederum bleibt der größte Fehler Tang Wus – die jahrelang versäumte Entlarvung des
Butlers
– unerwähnt. Das Arbeitslager bleibt ihm erspart – und dem Attaché selbst die Ausweisung.
Drittens: Das Büro in Paraguay werde das Verschwinden des Gesprächsprotokolls über die diplomatische Telefonleitung und die
Nichterwähnung des Aufenthalts von Gunther Göritz heute Nacht im Potala Palast mit einem großzügigen Bargeschenk honorieren.
Viertens: Offiziell würde man bekannt geben können, dass Generalmajor Tangs Leute das israelische Sprengteam gestoppt und
damit die Vernichtung des Weltkulturerbes |381| Potala Palast verhindert hatten. Das würde dem von den Propagandaspezialisten des Dalai Lama gebeutelten Ansehen der Volksrepublik
gut tun.
Ein kleiner Nebeneffekt dieses Deals war natürlich, dass damit das Heiligtum der Nazis erhalten blieb.
Leben und leben lassen.
So lief das Spiel eben.
Decker, der von alledem natürlich nichts ahnte, wandte sich an Tang Wu und sagte: »Wir müssten eigentlich zurück in die Grabkammern.
Wir haben noch was zu erledigen, aber ... wie soll ich es sagen ...«
Der Kommandant unterbrach Decker und sagte mit einem kühlen Lächeln: »Selbstverständlich. Das wäre das Naheliegendste. Aber
wollen Sie das wirklich?«
In diesem Moment, und so wie Tang Wu das betonte, war Decker klar, dass der Geheimdienstchef gar keine Erklärung von Decker
brauchte. Seltsam. Er konnte doch nicht wissen, was der Killer als Gegenleistung für Li Mais und Deckers Leben verlangt hatte.
Oder doch?
Das ist nicht meine Welt, dachte Decker. Er blickte Tang Wu prüfend an, fand aber in dessen Gesicht keine Antwort.
»Dann ist ja alles klar, und wir können jetzt zurück zu den Hubschraubern gehen«, sagte Li Mai, die angespannte Stille zwischen
Decker und Tang Wu unterbrechend. Ihr lief die Zeit davon. Wenn ihre Mission noch gelingen sollte, dann mussten sie sofort
aufbrechen. Der Tempel war jetzt egal.
»Ja«, sagte Tang Wu. »Alles ist klar. Gehen wir«.
|382| Auf dem Weg nach oben dachte Decker über das eben Gehörte nach. Der Dalai Lama verdankte es also den Nazis, dass sein Palast
noch stand. Wusste das Seine Heiligkeit eigentlich?
Nahm er Heinrich Harrer deshalb bis heute in Schutz? Unterhielt er deshalb Kontakte in die rechte Szene der Nazi-Bewunderer
in Lateinamerika?
Decker wusste keine Antwort. Er wusste nur, dass er tief enttäuscht war, den Tempel des Schreckens nicht gefunden zu haben.
Andererseits war er froh, noch zu leben.
Während die Gruppe schweigend durch die dunklen Gewölbe marschierte, kreisten Decker noch andere Gedanken im Kopf herum: Wieso
brachen Li Mai und Tang Wu die Suche nach dem Gokang jetzt ab, wo sie doch keiner mehr aufhalten konnte hier unten? Wer stand
alles hinter dem S S-Killer und hatte ihn letzten Endes gestoppt?
Für wen und wie lange hüten sie den Tempel wohl noch?
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Die
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