Das Tibetprojekt
Boden.
Dann Stille.
Totenstille.
Decker und Li Mai hörten nur ihren Atem.
Eine angenehme Stimme aus dem Dunkel erklang: »Die Dame hat recht. Er war wirklich ein Bastard.«
Deutsch!
Hier mitten in der Nacht im Potala sprach jemand Deutsch.
Dann trat ein hochgewachsener Mann aus dem Dunkel. In der Hand hielt er eine moderne High-Tech-Maschinenpistole mit Nachtsichtgerät
und Schalldämpfer. Die berühmte MP 7. Ideal für diese Räumlichkeiten und vom Allerfeinsten, erkannte Li Mai. Und er hatte diesmal |371| anscheinend präzise in den Hirnstamm geschossen. Sofortige Lähmung und Tod. Offensichtlich wollte er sein Opfer erst in allerletzter
Sekunde sterben und Decker ein wenig zittern sehen. Er hatte wohl einen sadistischen Sinn für Dramatik.
Der Unbekannte kam mit aufrechtem, fast aristokratischem Gang näher, gab dem Toten einen verächtlichen Fußtritt und ging dann
zu der verriegelten Tür.
Decker stand wie angewurzelt da. Er erkannte die Form der Mütze auch in dem schummerigen Licht der Taschenlampen sofort.
Der Unbekannte öffnete Li Mais Gefängnis und bedeutete ihr mit einer ruhigen Geste und einem kultivierten »Bitte«, sich neben
Decker zu stellen. Sie blickten beide auf seine Waffe und spürten, dass sie dieser Art von Freundlichkeit besser nicht widersprechen
sollten.
Als Decker und Li Mai zusammenstanden, nahm der Unbekannte Haltung an, schlug die Hacken zusammen, neigte den Kopf, ohne sie
dabei aus den Augen zu lassen und sagte: »Major Li, Herr Dr. Decker – gestatten Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle: Sturmbannführer Gunther Göritz. Abteilung Ahnenerbe der SS.«
Li Mai und Decker waren sprachlos.
Bisher war alles über das ›Dritte Reich‹ nur Geschichte gewesen.
Theorie und Spekulation.
Jetzt stand das alles leibhaftig vor ihnen.
Sie hatten jetzt plötzlich viel Zeit, ihr Gegenüber in Ruhe anzusehen. Kurze blonde Haare, wasserblaue Augen. Ein germanischer
Recke, wie er im Buche stand. Decker schauderte.
|372| Sie lebten also tatsächlich und waren noch immer aktiv.
Das müssen ja inzwischen die Enkel sein,
dachte Decker
.
Seine Blicke wanderten ungläubig über die schwarze Uniform, die silbernen Totenköpfe, das Hakenkreuz und die Kragenspiegel
mit den S S-Runen .
Hier und heute. Unfassbar.
Der Historiker in Decker konnte nicht umhin, eine gewisse Faszination zu verspüren. Dann besann er sich und sagte zu dem Mann
in schwarzer Uniform: »Ich sollte Ihnen wohl danken, dass Sie diesen Killermönch gerade noch rechtzeitig umgelegt haben.«
Die Antwort kam in eisiger Kälte: »Keineswegs.«
»Heißt das, Sie werden jetzt uns töten?«
Gunther Göritz überlegte einen Moment.
Decker lief ein Schauder über den Rücken. Kaum war er dem tibetischen Mörder entkommen, stand er schon wieder vor seiner Hinrichtung.
Er blickte auf die futuristische Waffe in der Hand des Killers und überlegte, wo der S S-Mann wohl hinschießen würde.
Auch Li Mai würde gegen diesen kaltblütigen Mörder nichts ausrichten können. Genauso wenig wie die israelischen Fallschirmjäger,
die er aus dem Hinterhalt abgeknallt hatte.
Decker verabschiedete sich von dieser Welt. Das war’s dann wohl endgültig. Er dachte an Dantes »Lasset alle Hoffnung fahren«
und bemerkte fast schon eine gewisse Lässigkeit bei sich. Man gewöhnt sich eben an alles.
Auch ans Sterben.
|373| »Es wäre mir ein Vergnügen, Sie beide zu töten ...«, sagte der Sturmbannführer.
»Wäre ...?« Decker horchte auf. Hatte er
wäre
gesagt?
»... nur leider hat jemand aus einer übergeordneten strategischen Überlegung heraus entschieden, Sie beide leben zu lassen. Schade«,
sagte der S S-Killer ohne jede Emotion.
»Wer hat das entschieden?«, fragte Li Mai unbeeindruckt. Decker hingegen sah hier unten plötzlich die Sonne aufgehen und konnte
sein Glück noch nicht glauben. Er war gerade dem sicher geglaubten Tod von der Schippe gesprungen. Zweimal hintereinander.
Er atmete innerlich auf.
Der Mann in der schwarzen Uniform lächelte nur kurz. Dann fuhr er fort: »Unwichtig. Aber Sie können sich für mein Entgegenkommen,
Sie am Leben zu lassen, erkenntlich zeigen.«
»Und wie?«, fragte Decker, der nun gänzlich aus seinem Trancezustand erwacht war.
»Indem Sie uns keinen Grund geben, Sie doch noch zu exekutieren. Brechen Sie Ihre Suche an dieser Stelle ab«, sagte Göritz.
»Daran wäre uns sehr viel gelegen.« Mit einer angedeuteten Geste
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