St. Leger 01 - Der Fluch Der Feuerfrau
Prolog
Nur wenige Menschen wagten sich in den alten Teil von Castle Leger. Das Licht von tausend Kerzen hätte nicht ausgereicht, die Dunkelheit aus der großen mittelalterlichen Halle zu vertreiben. Finstere Schatten lauerten hier, und uralte Geheimnisse hatten sich seit Jahrhunderten angesammelt, bis sie den unebenen Steinboden dicht wie Staub zu bedecken schienen.
Der gegenwärtige Herr von Castle Leger fürchtete die große Halle nicht wirklich, er verachtete sie eher. An den Wänden hingen die Porträts seiner Ahnen - allesamt Personen, die kein Mensch, der noch bei Verstand war, gern zu seinen Vorfahren gezählt hätte. Doch dieser Ort eignete sich ideal dafür, sich zurückzuziehen, wenn man allein sein wollte oder Angelegenheiten zu regeln hatte, die niemand anderen etwas angingen. Allerdings hielt man es in der Halle nur dann aus, wenn es einem nichts ausmachte, ständig von einem guten Dutzend gemalten Augenpaaren angestarrt zu werden oder immer wieder das Gefühl zu erleben, eines dieser Bilder könne lebendig werden, sobald man ihm den Rücken zukehrte.
Anatole St. Leger hatte sich schon vor langem daran gewöhnt. Manchmal kam es ihm so vor, als stünde er schon seit der Stunde seiner Geburt unter einem Fluch. Angetan mit seinem weißen Leinenhemd, der ledernen Hose, die wie eine zweite Haut an seinen kräftigen Schenkeln klebte, und den schweren Landstiefeln, schob er den reich verzierten Sessel näher an den langen Eichentisch heran. Jenseits der schmalen, hohen Fenster ging das Abendgrau eines weiteren Wintertages ins Schwarz der Nacht über. Das Feuer, welches im offenen Kamin prasselte, warf ein fast schon dämonisches Glühen auf Anatoles kantige Wangenknochen und sandte den Schatten seines muskulösen Körpers an die hohe Steinwand, wo er bis unter die Decke aufragte.
Der Burgherr wirkte wie ein Kriegerkönig, als er das mittelalterliche Schwert vor sich betrachtete, die Klinge, von der er geschworen hatte, sie nie wieder zu gebrauchen. Sein Mund verzog sich zu einer Grimasse des Selbstzweifels.
Anatole widerstand der Versuchung noch einen Moment länger, dann zog er die Waffe zu sich heran. Der fein verarbeitete, goldene Griff funkelte im trüben Schein, doch fiel dem Betrachter der glitzernde Edelstein ins Auge, welcher im Knauf eingelassen war - ein Kristall von erstaunlicher Reinheit und Schönheit und gleichzeitig das einzige Überbleibsel der Zauberei, die sein bereits vor langer Zeit verstorbener Urahn, Lord Prospero, betrieben hatte. Aber selbst dieses kleine Stück hatte es in sich, bot dieser Kristall doch ein Fenster, durch das man in die Zukunft schauen konnte.
Der Lord umschloss den Knauf mit beiden Händen und ärgerte sich darüber, dass seine Finger, obwohl sie in Lederhandschuhen steckten, zu zittern begannen. Er starrte in den Kristall und bekam zuerst nicht mehr als sein eigenes Antlitz zu sehen, das darin widergespiegelt wurde: die hohe Stirn, die kantigen Wangenknochen, die Adlernase, welche er von seinen englischen Vorfahren geerbt hatte, die nachtschwarzen Augen, die dunkle Haut und die ebenholzfarbene Mähne, die ihm bis zu den Schultern reichte und zusammen mit einigen eher finsteren Talenten von seiner spanischen Seite stammte.
Nur die Narbe, die sich quer über eine Schläfe zog, war ganz allein sein eigener Verdienst, dachte der Burgherr, ein weitaus jüngeres Erbe von Hass und Furcht. Er umschloss den Schwertgriff mit der Rechten und presste die Finger der Linken an die Stirn, um hinter sein Abbild und tiefer hinein in den Kristall zu gelangen. »Konzentrier dich, verdammt noch mal, du musst dich konzentrieren«, murmelte Anatole vor sich hin, bis er das vertraute Prickeln spürte, wie stets am Anfang schmerzhaft, so als stächen hundert weiß glühende Nadeln in die Innenseite seiner Augen. Sein Körper schien zu entschwinden und sich immer tiefer in den Stein zurückzuziehen. Nun bewölkte sich der Stein, und mitten im wirbelnden Dunst nahm allmählich eine Vision Gestalt an ... eine Frau. Nein, sie, die junge Lady mit dem flammend roten Haar, das im Wind wehte und so rotgolden leuchtete, als stünde es in Flammen.
»Die Feuerfrau«, sagte der Burgherr leise und spähte genauer hin, um ihre Gesichtszüge erkennen zu können. Er presste die Fingerspitzen gegen die Stirn, als wolle er den Knochen zerdrücken, und der Schmerz hinter seinen Augen nahm an Intensität zu.
Wie auch schon bei den früheren Gelegenheiten, wollte der Kristall das Gesicht der Frau nicht
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