Das Todeshaus
einem Baum erschlagen, obwohl sie keiner Fliege etwas zuleide getan hatte. Wenn es irgendeine Seele gibt, die die Freiheit verdient hat, dann ist es ihre.«
Anna ballte die Hände zu Fäusten. »Was soll ich tun? Was kann ich allein schon ausrichten? Ich bin schwach. Ich werde sterben. Meine Seele ist nicht gerade im besten Zustand. Wie zum Teufel soll ich glauben können?«
»Du musst nur deinem Herzen folgen, Anna.« Sylva trat ans Fenster. »Die Sonne geht gleich unter. Du weißt, was das bedeutet.«
»Ja, ja. Der blaue Mond.«
Gebückt schlurfte Sylva durch das Zimmer und verfluchte Ephram im Stillen dafür, dass er ihre Knochen so gebrechlich und ihre Haut so faltig hatte werden lassen. Sie legte eine Hand auf Annas Schulter, presste sich eine weitere Träne aus dem Auge und sagte dann: »Folge einfach deinem Herzen. Das reicht aus, um zu glauben.«
Noch einmal umarmte Sylva sie und dieses Mal erwiderte Anna die Geste, klammerte sich an ihr fest mit einer Verzweiflung, die aus ihrer lebenslangen Einsamkeit geboren war. Sylva löste sich von ihr und wich einen Schritt zurück. »Du solltest jetzt besser zum Haus zurückkehren. Miss Mamie wartet schon.«
Anna trat hinaus in die anbrechende Finsternis. Der Wind pfiff eisig durch die Bäume, die Kälte ließ den Tau auf den Blättern gefrieren. Heute Nacht würde es Frost geben, dachte Sylva. Dies würde eine Nacht der Toten werden.
Sie schloss die Tür der Hütte und ging zum Kaminsims, strich über das gefaltete Stück Stoff und betete, dass der darin enthaltene Zauber seine Wirkung nicht verfehlen würde.
56. KAPITEL
»Sie sind früh dran, meine Herren«, sagte Miss Mamie.
»Wir wollen ein bisschen die Aussicht genießen«, erwiderte Paul, der an der Brüstung stand, ein Glas vom Hauswein in der Hand.
»Ein reizender Sonnenuntergang«, sagte sie.
Adam betrachtete die Welt zu seinen Füßen, die mit Gold überzogenen Bergkämme, die farbig schattierten Hänge. Die Luft war erfüllt von den letzten bittersüßen Düften des Herbstes, durchbrochen von einer eisigen Kälte, die den nahenden Winter ankündigte. Vielleicht war er deshalb in den letzten Tagen so schlecht gelaunt gewesen. Die kalte Jahreszeit fühlte sich für ihn immer wie Sterben an, brachte eine graue Einöde, die es zu ertragen galt wie den Albtraum aus seiner Kindheit. Und er hatte Paul die Schuld dafür gegeben, für diesen Wechsel der Jahreszeiten, der ihn innerlich immer so sehr aufwühlte.
»Sind Sie nicht froh, dass Sie geblieben sind, Mr. Andrews?« wollte Miss Mamie wissen.
Adam und Paul tauschten Blicke aus. »Ja,« antwortete Adam. »Ich bin manchmal einfach etwas melodramatisch. Nicht wahr, Paul?«
»Ja, das stimmt, mein Süßer.« Er tätschelte Adams Hand, was Miss Mamie wahrscheinlich eher als Zeichen der moralischen Unterstützung anstatt als romantische Geste deutete. »Wir amüsieren uns hier köstlich.«
Paul wandte sich an Miss Mamie. »Ist es okay, wenn ich meine Videokamera hole? Diese Landschaft ist einfach unwiderstehlich.«
Miss Mamie lächelte. »Warum nicht. Ich bin überzeugt, die heutige Nacht wird unvergesslich und sollte für die Nachwelt festgehalten werden.«
Lilith stieß zu ihnen, schenkte Paul nach und bot auch Adam Wein an, der aber höflich ablehnte. »Nein, danke. Ich muss fahren.«
Miss Mamies Lachen wurde vom Wind hinfort getragen. »Ach, Sie sind ja wirklich lustig. Kein Wunder, dass Ephram so begeistert von Ihnen ist.«
»Wo wir gerade von ihm sprechen. Es überrascht mich, dass es von ihm keine Porträts auf dem Witwensteg gibt,« meinte Paul.
»Dies hier war zu seinen Lebzeiten einer seiner Lieblingsplätze. Er liebte nichts mehr als eine unterhaltsame Feier, vor allem bei Vollmond.«
Die Abramovs saßen gegenüber der Brüstung in der Nähe der Bar, die eigens für diesen Abend hergerichtet worden war, und stimmten ihre Instrumente. Der Temperatursturz hatte das Holz verzogen und sie mussten die Saiten ständig nachziehen. Sie spielten die Tonleiter einige Male durch, doch beim Wechsel der Tonlagen hörte man noch immer die Disharmonien durch.
»Die Abramovs haben mir ein originelles Duett zugesichert,« sagte Miss Mamie. »Sie haben es eigens für diesen Anlass komponiert. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich habe noch einiges vorzubereiten.«
Nachdem sie gegangen war, beugte sich Adam in seinem Stuhl nach vorn und ergriff das Geländer des Witwenstegs. Er wagte einen Blick seitwärts zu dem schrägen Dach
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