Prolog
[email protected] Mit ihrem unermüdlichen Streben nach Bequemlichkeit und Wirtschaftswachstum ist die Menschheit in sehr kurzer Zeit in eine gefährliche Abhängigkeit von Netzwerksystemen geraten: Innerhalb von noch nicht einmal zwanzig Jahren wurden große Teile der sogenannten »kritischen nationalen Infrastruktur« – auf Fachchinesisch CNI (für critical national infrastructure) – unter die Kontrolle immer komplexerer Computersysteme gestellt.
Computer bestimmen über große Teile unseres Lebens: Sie steuern unsere Kommunikation, unsere Autos, unsere Beziehungen zu Firmen und Staat, unsere Arbeit, unsere Freizeit, eigentlich alles. In den letzten Jahren war ich bei mehreren Prozessen zugegen, in denen es um Cyberkriminalität ging. In einem davon verlangte die britische Staatsanwaltschaft, man solle einem Hacker Auflagen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung machen, die nach seiner Haftentlassung in Kraft treten sollten. Die Auflage bestand darin, dass ihm der Zugang zum Internet verwehrt bleiben sollte, mit Ausnahme einer Stunde in der Woche unter der Aufsicht eines Polizisten. Während des Prozesses erklärte der Verteidiger: »Bis mein Mandant seine Strafe abgesessen hat, wird es kaum noch eine Tätigkeit der Menschen geben, die nicht in irgendeiner Form über das Internet vermittelt wird.« Dann fragte er rhetorisch: »Wie soll mein Mandant unter solchen Umständen ein normales Leben führen?«
Ja, wie eigentlich? Wer sein Handy auch nur für ein paar Stunden zu Hause gelassen hat, ist häufig äußerst irritiert und empfindet Verlustgefühle ähnlich den Entzugserscheinungen bei Drogenabhängigen. Etwas Interessantes geschieht aber, wenn man das Gerät für drei Tage entbehren muss: Dann weicht das quälende, unbehagliche Gefühl häufig einem Rausch der Befreiung, weil man wieder in eine noch gar nicht so weit entfernte Welt zurückkehrt, in der wir Handys weder hatten noch brauchten und unser Leben entsprechend einrichteten. Heute haben die meisten Menschen das Gefühl, sie könnten ohne diese winzigen, tragbaren Computer nicht mehr leben.
Am ehesten mit dem Computer vergleichbar ist vielleicht das Auto. Als Autos seit den 1940er Jahren allmählich zum üblichen Familieninventar gehörten, begriff nur eine Minderheit der Fahrer, was unter der Motorhaube im Einzelnen vorging. Immerhin gab es aber eine ganze Reihe von Autobesitzern, die ihr Fahrzeug bei jeder Panne selbst reparieren konnten; noch mehr konnten den Vergaser flicken und langsam nach Hause schleichen, und die meisten konnten zumindest einen Reifen wechseln.
Auch heute kommt man mit einem Platten in den meisten Fällen noch an den Bestimmungsort. Immer mehr Pannen werden aber durch Computerfehler in der Steuerungseinheit verursacht – jenem schwarzen Kunststoffgehäuse, das in der Regel hinter dem Motor angebracht ist. Wenn die Ursache wirklich in der Steuerungseinheit liegt, kann selbst ein erfahrener Mechaniker an der Tankstelle das Auto nicht mehr flottmachen. Wenn man Glück hat, gelingt einem Computeringenieur die Reparatur. In den meisten Fällen jedoch muss die Steuerungseinheit ausgetauscht werden.
Computersysteme sind so viel komplexer und empfindlicher als Verbrennungsmotoren, dass nur eine winzig kleine Gruppe von Menschen mit Problemen auf eine Weise umgehen kann, die über den Standardsatz »Haben Sie es schon einmal mit einem Neustart versucht?« hinausgeht.
Heute befinden wir uns in einer Situation, in der diese kleine Elite – egal, ob man sie nun Hacker, Technikfreaks, Codierer, Geeks, Securokraten oder sonst wie nennt – ein Herrschaftswissen über eine Technologie besitzt, die Tag für Tag unser Leben immer stärker und umfassender steuert, während die meisten anderen davon absolut nichts verstehen. Wie bedeutsam das ist, erfuhr ich zum ersten Mal, als ich mit den Recherchen für McMafia beschäftigt war, mein früheres Buch über das organisierte Verbrechen. Um die Cyberkriminalität zu untersuchen, reiste ich nach Brasilien, weil dieses faszinierende Land nicht nur viele positive Eigenschaften hat, sondern auch ein wichtiges Zentrum des Bösen im Web ist – was zu jener Zeit allerdings noch kaum jemand wusste.
Dort lernte ich Cyberdiebe kennen, die sich eine ungeheuer erfolgreiche Phishingmethode ausgedacht hatten. Phishing ist bis heute eine der zuverlässigsten Säulen der Internetkriminalität. Es gibt zwei einfache Varianten. Die erste: Das Opfer öffnet eine Spam-E-Mail. Der Anhang