Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
Pianist und eine Art Mädchen für alles in musikalischen Dingen wirkte. Als mich damals die Dramaturgin, eine ältere Dame, kommen sah, rief sie hinter der Bühne: »Karel, deine Schwester ist da.« Wir waren aber überhaupt nicht verwandt, trugen nur den gleichen Zunamen. Wir stellten diesen Irrtum jedoch in keinerlei Weise richtig und deklarierten uns von da an höchst zufrieden als Bruder und Schwester. Selbst Reiners erwachsene Töchter nennen mich bis heute Tante.
»Und bei euch dort oben, Karlícku, wie steht es da mit uns?«
»Du bist und bleibst meine Schwester«, beruhigt er mich, »Wahlverwandtschaften werden hier ebenso geschätzt wie familiäre. Vielleicht sogar ein wenig mehr, was ja auch logisch ist.«
Als im August 1968 die ganze Tschechoslowakei über Nacht »brüderlich« mit Panzern und einem beträchtlichen Teil des Waffenarsenals der Sowjetunion besetzt wurde, kam Karel Reiner durch die jeglicher Beleuchtung baren und von dumpfem Rollen erbebenden pechschwarzen Straßen zu mir in die Redaktion gelaufen. Erleichtert stellte er fest, daß ich völlig unversehrt noch da war, und wir verabredeten am nächsten Tag – es war ein Sonnabend – einen Rundgang durch unsere Stadt zu machen, um zu sehen, ob sie zwischen den Kanonenrohren und von Panzerketten zermalmten Gehsteigen noch atmen konnte.
An ein Kanonenrohr hatte ich mich in jenen Tagen übrigens schon beinahe gewöhnt. Es gehörte zu dem Geschütz, das unter meinem Redaktionsfenster Stellung bezogen hatte und auf dem seine Mannschaft im warmen Sommerwind ihre Unterwäsche trocknete.
»Kannst du dich daran noch erinnern, Karlicku«, erkundige ich mich, nachdem sich meine beiden Jugendfreunde in der Kaffeerunde so unverhofft meiner angenommen haben, um die Unterhaltung vom Himmel zur Erde von meiner Person etwas abzulenken.
»Selbstverständlich, so etwas, wie auch unseren damaligen Erkundigungsgang durch das überrumpelte Prag, kann man doch nicht vergessen.«
Als wir an jenem Sonnabendvormittag loszogen, schien die Sonne, und viele Prager hatten offenbar dieselbe Absicht wie wir. Die Straßen waren voll von Menschen. Ungeachtet der von graugrünen Metallkolossen strotzenden Gassen, Brücken und Plätze, schlenderten ganze Familien durch ihre Stadt.
Wir begaben uns in die Parkanlage auf dem Petřín-Hügel. Überall das gleiche Bild. Prager mit Kind und Kegel, Liebespaare, verängstigte, schüchtern vor sich hin trippelnde alte Menschen. Dazwischen die fremden Soldaten in schmutzig grünen Uniformen, die niemand auch nur eines Blickes würdigte.
»Heute ist scheinbar ›druzba‹ (Freundschaft) die Parole«, bemerkte Karel trocken. »Jungen Mädchen wird zugelächelt, Kinderköpfchen werden gestreichelt, alten Frauen wird Platz gemacht.«
Aber die jungen Mädchen zeigten zugeknöpfte Gesichter, die alten Frauen schlichen erschrocken weiter, die neugierigen Kinder wurden von energischer Elternhand festgehalten.
In der Ausbuchtung eines der Parkwege saß eine Gruppe von Sowjetoffizieren. Als wir näher kamen, nahm einer von ihnen seine Ziehharmonika zur Hand, er begann zu spielen, die anderen sangen. Als ob sie nichts sahen und hörten, gingen die Menschen an ihnen vorbei.
Mein Freund, der Komponist Karel Reiner, der Theresienstadt und Auschwitz überlebt hat, wurde mit einem Mal fahlgrau im Gesicht.
»Genug«, sagte er leise, »aufgezwungene Kommandomusik ertrage ich nicht mehr und das Geplärr schon gar nicht.«
Wir kehrten um. Am Abend hörte man wieder Schüsse in der Stadt.
»Gibt es in eurem Kaffeehaus ein Klavier für dich, oder haben dir die Engel eine Harfe oder Laute überlassen?« möchte ich wissen, denn selbst im Jenseits ist Karel ohne ein Musikinstrument nur schwer vorstellbar. Noch kurz vor seinem Tod hat er das gesamte für 12-Ton-Klavier komponierte Werk des von ihm verehrten Meisters Karel Hába auf einem mühsam dafür aufgetriebenen Instrument eingespielt, eine ebenso bewundernswerte wie verdienstvolle Leistung.
»Du wirst dich wundern«, eröffnet er mir nun, »die unendlichen Donnervariationen und überraschenden Sturmtempi sind eine tolle, geradezu provokative Inspiration.«
Der zweite meiner Jugendfreunde, der Schriftsteller Norbert Frýd, den wir alle Nora nannten, war sein Leben lang ein sehr sensibler Mensch. Er hat seine Frau und ein kaum geborenes Kind in den Vernichtungslagern der Nazis verloren, mußte selbst Jahre im Konzentrationslager Dachau verbringen. Bevor ihn dieses Unglück traf, war er ein
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