Das unendliche Blau
so ein abgegriffenes Wort.«
»Da haben Sie recht.«
»Er ist mehr als das. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, einverstanden?«
»Ich mag Geschichten.«
»Also, als Kinder hatten wir ein Spiel, mein Bruder und ich. Wir spielten Beerdigung. Wir dachten uns eine Person aus, die wir kannten, und stellten uns vor, sie sei gestorben. Unsere Lehrerin, den Padre, die dicke Fischverkäuferin, bei der unsere Mutter freitags die Sardinen kaufte …« Sie nahm sich noch eine Zigarette und griff nun selbst nach dem Feuerzeug.
»Mein Bruder hielt wunderbare Grabreden«, fuhr sie fort. »Er erfand unglaubliche Lebensgeschichten, und sie gingen immer gut aus. Im Gegensatz zu seinen Romanen heute hatten sie wenigstens einen Schluss, er verzierte sie alle mit einem Happy End. Eigentlich wollten wir ja die Leute nur beerdigen, weil man da so viele tolle Sachen über jemanden erzählen konnte und weil es hinterher Hefezopf mit Rosinen gab, wie bei dem echten Begräbnis unseres Großvaters. Wir kauften also in der Bäckerei von unserem Taschengeld alle paar Wochen Hefezopf, und dann konnte die Zeremonie beginnen. Unsere Toten waren kleine Figuren aus Knetmasse, die wir in Streichholzschachteln legten und in unserem Vorgarten vergruben. Mein Bruder hielt die Rede, und ich tat, als ob ich weinen würde, manchmal weinte ich auch wirklich. Und danach gab’s den Hefezopf. Heute gehe ich hin und wieder an dem Haus hier in Triest vorbei, in dem wir aufgewachsen sind. Der Garten existiert noch, aber keiner weiß, dass es ein kleiner Friedhof ist.«
Martha lächelte.
»Merkwürdig«, sagte die Frau neben ihr. »Ich habe diese Geschichte noch nie jemandem erzählt.«
»Es ist eine schöne Geschichte. Manchmal denke ich mir, wenn man etwas über einen Menschen erfahren will, muss man nur nach den Spielen fragen, die er als Kind gespielt hat.«
»Haben Sie Kinder?«
»Ja, eine Tochter.«
»Wie alt ist sie?«
»Anfang zwanzig.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Geschieden. Lina, meine Tochter, ist bei mir aufgewachsen. Aber das ist wieder eine andere Geschichte … Keine so schöne übrigens.«
»Verstehe.« Die Frau streckte ihre Hand aus. »Ich bin Francesca.«
»Und ich bin Martha.«
Sie hatten beide einen festen Händedruck. Und als sie aufstanden und zwischen den Menschen auf der Mole Richtung Piazza dell’Unità zurückliefen, hatten sie bereits beschlossen, den Rest des Tages gemeinsam zu verbringen.
Sie lächelten synchron, als sie in einem Café auf dem großen Platz eine Schulklasse sahen. Die Kinder mochten sechs oder sieben Jahre alt sein, sie hatten alle Sessel besetzt und aßen wahlweise Schoko- oder Vanilleeis, während sie die Füße baumeln ließen. Eine Gesellschaft en miniature, die sich dort niedergelassen hatte, wo sonst Geschäftsleute mit ihren Handys und Touristen mit ihren Kameras saßen.
»In dem Alter schmeckt das Leben noch süß«, sagte Martha.
»Das kann es in jedem Alter«, erwiderte Francesca.
Es wurde, was Martha später einen denkwürdigen Tag nannte. Sie tat, was sie sonst nicht tat: Sie redete über sich. Erzählte dieser Frau von ihrer Arbeit, ihren Sorgen um den alten, kranken Vater, ihre zurückliegenden Kämpfe mit der Tochter.
Francesca begleitete alles mit ihrem wachen, schnellen Blick, um irgendwann wieder von sich zu sprechen. Sie sei Lehrerin in einem Kulturinstitut, bringe Menschen aus aller Welt Italienisch bei. Woche für Woche kämen Leute in ihre Klasse, um sich von ihr erklären zu lassen, dass ihre Sprache wunderschön, aber keinesfalls logisch sei. Dass Ungereimtheiten das gewisse Etwas, sozusagen das Salz in der Minestrone seien. Sie grinste, als sie das sagte, und Martha ahnte, dass sie diesen Vergleich öfter anbrachte. Besonders Männer aus Amerika und England täten sich schwer mit dem weichen italienischen Singsang, erklärte Francesca; mit den Italienerinnen dagegen täten sie sich um einiges leichter.
Ob sie verheiratet sei, fragte Martha.
Francesca schüttelte den Kopf. Ein paar Beziehungen habe es gegeben, sie habe sogar mal versucht, mit einem Mann zusammenzuleben, aber sie sei wohl nicht für die Zweisamkeit geschaffen. Zu viele Kompromisse, zu viele Einschränkungen, zu viele Konditionalsätze.
Martha zuckte zusammen, als Francesca ein paar Sätze mit »se« beginnend auf Italienisch durchdeklinierte.
Wenn ich …, wenn du …, wenn wir …
Und während sie von der Piazza in eine der kleinen Seitenstraßen abbogen, machten ihre Gedanken kurz halt. Wie
Weitere Kostenlose Bücher