Das unendliche Blau
gerade mal feine Sprünge gezeigt hatte. Martha hat nie aufgehört, die Uhr anzulegen; in solchen Dingen ist sie pragmatisch.
Jetzt wirft sie ihren graublauen Blick der Tochter zu, lässt ihn dort für Momente nach Ankerpunkten suchen, während ihre Hand noch immer in Linas liegt, zart und ein wenig kälter als sonst.
»Entschuldigt, bitte«, flüstert sie.
Als sie die Finger löst, zuckt sie kaum merklich mit den Schultern. »Entschuldigt«, sagt sie noch einmal, etwas lauter diesmal.
Und dann steht sie vom Tisch auf wie in Zeitlupe. Sie geht Richtung Tür. Ihr »Bin gleich wieder da« nimmt sie mit.
Das Letzte, was Lina von ihrer Mutter sieht, ist die wippende Bewegung des schwarzen Kleides.
Marthas Kollege, der mit der Bemerkung über die Midlife-Krise, fragt nach einer guten halben Stunde als Erster, wo die Gastgeberin eigentlich sei.
Da zuckt Lina noch mit den Schultern und setzt ihr Gespräch mit einem alten Freund ihrer Mutter fort. Ein Gespräch über ihr Studium. Sie hat vor, hier auszuziehen und für ein Jahr ins Ausland zu gehen. Paris oder Rom oder Barcelona, so genau weiß sie das noch nicht. Sie weiß nur, dass sie wegwill. Weg aus dem Elternhaus, das als Nest ausgedient hat. Sie lebt ganz gern mit ihrer Mutter. Sie haben eine Art Nichtangriffspakt geschlossen, die großen Schlachten sind geschlagen, jetzt regiert auf beiden Seiten freundliche Nachsicht. Und trotzdem weiß Lina, dass es Zeit wird. Zeit, ihre Sachen zu packen.
Als sie kurz darauf aufsteht und in die Küche geht, sehen die Rosen ihres Vaters sie an. Es sind teure Rosen, solche, die nicht auf einen Fingerdruck hin nachgeben. Er ist schon immer großzügig gewesen in diesen Dingen; manchmal hat ihre Mutter ihn verschwenderisch genannt, nicht ohne dabei zu lächeln. Es ist ein verstecktes Lächeln gewesen, eines, von dem Lina ahnt, dass Martha Männer damit um den Verstand bringen kann. Aber sie hat nie viel Gebrauch davon gemacht. Sie hat ihren Job als Journalistin erledigt und ist auf Pressereisen früh zu Bett gegangen. Sie hat sich um Lina gekümmert. Und um ihren alten Vater, der jetzt in einem Heim lebt und weder Tochter noch Enkelin mehr erkennt.
Martha hat all das nahezu klaglos getan; nur hin und wieder hat Lina sie spätabends mit einem Glas Rotwein auf dem Sofa sitzen sehen, und sie hat gewusst, dass es nicht das erste Glas gewesen ist. In diesen Momenten hat ihre Mutter sie hineinsehen lassen in den Raum, den sie sonst so sorgsam hinter dicken Läden verschließt. Sie macht nicht viel Aufhebens um sich; manchmal glaubt Lina, sie ist deswegen eine so gute Journalistin. Eine, die für ihre Porträts und Interviews und Reportagen viel Anerkennung bekommen hat. Eine, der man gern Aufträge gibt. Einen Röntgenblick besitze sie, behaupten manche, und trotzdem bringt sie den Menschen Empathie entgegen. Keiner kann sich dem entziehen.
»Mami?«, ruft Lina in den Flur hinein.
Die Wände, an denen Fotos aus fünf Jahrzehnten hängen, werfen die Frage zurück.
Sie läuft die Treppe hinauf, dort, wo die Schlafzimmer und das Büro ihrer Mutter liegen. Die Türen stehen offen. Lina blickt auf ordentlich gemachte Betten und auf einen weniger ordentlichen Schreibtisch.
»Mami?« Ihre Stimme hat nun einen alarmierten Unterton.
Sie klopft an die Badezimmertür und öffnet sie, als sie keine Antwort bekommt. Sieht auf Zahnputzgläser, Cremetöpfe, Haarbürsten, spärlich beleuchtet von der Straßenlaterne vor dem Fenster.
Lina setzt sich auf den Badewannenrand, spürt den Rotwein, den sie getrunken hat. Und sie spürt noch etwas. Ein Gefühl, das sich in ihren Eingeweiden formiert wie eine zu allem entschlossene Armee. Angst. Sie kann diese Angst nicht mehr in ihre Schranken weisen; binnen Sekunden wird jeder Winkel ihres Körpers davon besetzt.
Sie weiß nicht, wie lange sie dort sitzt, weil Sekunden und Minuten in diesem nächtlichen Badezimmer die Konturen verlieren. Sie weiß nur, dass sie irgendwann nach ihrem Handy sucht. Sie wählt die Nummer ihrer Mutter. Und dann hört sie den vertrauten Klingelton. Er kommt von nebenan, aus Marthas dunklem Schlafzimmer. Ihre Mutter geht nie ohne ihr Handy irgendwohin. Niemals.
Als Lina in die Garage läuft, um nach dem Auto zu sehen, ahnt sie bereits, was sie erwartet: Der alte Lancia ist verschwunden.
Ihr Blick irrt umher, findet schließlich das Schlauchboot, mit dem sie und ihre Eltern früher auf dem Plöner See herumgepaddelt waren. Irgendjemand hat es vor Jahren dort
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