Das unendliche Blau
Havanna Mojito trinken, Schiffe und Flugzeuge und Berge besteigen, in Bologna eine Wohnung suchen und Lampen aufhängen und Teppiche ausrollen, Sonntage im Bett verbummeln und sich aus Büchern und der Zeitung vorlesen und sich zwischendrin lieben, während es draußen regnet oder schneit, ein paar mehr Falten und graue Haare an sich entdecken und darüber lachen, ja, lachen, vor allem viel lachen …
»Tust du mir einen Gefallen?«, fragt Martha irgendwann.
»Ja.«
»Hol uns zwei Muscheln vom Strand, zwei, die noch nass vom Wasser sind. Ich bin ein bisschen zu erschöpft zum Laufen.« Sie hebt den Kopf und sieht ihn an. »Bitte.«
Er öffnet die Fahrertür und steigt aus.
Sie sieht ihm nach, wie er die paar Schritte über den Parkplatz geht.
Als er auf dem breiten Sandstreifen ist, greift sie nach ihrer Tasche. Sie holt die grün-weißen Packungen mit den Tabletten heraus, von denen sie nicht mehr als eine pro Tag einnehmen sollte. Doch dieser Tag ist nicht wie jeder Tag.
Es sind kleine weiße Pillen, und sie drückt alle davon in ihre Hand. Mehr als zwanzig Stück. Sie denkt nun nicht mehr nach. Sie hat sich entschieden. Jeder noch so kleinste Zweifel würde sofort eine innere Bremse aktivieren, das weiß sie. Deshalb schraubt sie schnell die kleine Wasserflasche auf, steckt die Tabletten in den Mund und nimmt einen großen Schluck aus der Flasche. Die Dosis wird genügen. Noch gestern hat sie darüber im Internet recherchiert, während Michele Kaffee kochte und fragte, ob sie Rühreier oder Spiegeleier wollte. Sie entschied sich für Rühreier, und gleichzeitig entschied sie, dass sie ihr Leben mit einem Fest beenden wollte. Sie hatte Rühreier bekommen – und ihr Fest hatte sie auch bekommen. Mehr war nicht drin.
Als Michele sich wieder zu ihr in den Wagen setzt, schenkt sie ihm ein Lächeln.
Die Muscheln sind noch feucht, und sie riechen nach Meer. Ihre Innenseiten schimmern wie Perlmutt.
»Sie sind wunderschön«, sagt Martha und fährt mit den Fingern über die feinen Rillen. »Als kleines Mädchen hab ich an der Ostsee Muscheln und Steine gesammelt. Ich hatte ein ganzes Arsenal davon in meinem Zimmer, und manchmal hab ich sie mit Wasser befeuchtet, damit sie glänzen. Doch sie glänzten immer nur für einen Moment. Am nächsten Morgen waren sie wieder stumpf und grau.«
Sie lehnt sich zurück und holt tief Luft.
Die Müdigkeit kommt schneller als erwartet.
»Weißt du, eines meiner Lieblingszitate stammt von Camus«, sagt sie, und sie lallt etwas dabei, merkt, dass sie die Silben bereits mit äußerster Sorgfalt aneinanderfügen muss. »›In den Tiefen des Winters erfuhr ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt.‹ Mit dir, Michele, hab ich diesen Sommer gefunden. Der da draußen«, sie macht eine müde Handbewegung Richtung Meer, »wird ohne mich stattfinden. Mein Morgen ist anderswo.«
Er streicht ihr über die Wangen. Seine Hände sind ein bisschen feucht von den Muscheln.
Sie rückt ganz nah an ihn heran. Sie spürt die Wärme seines Körpers, und sie spürt, wie die Kraft sie langsam verlässt.
»Ich habe eben Tabletten genommen«, flüstert sie. »Es dauert nicht mehr lange …«
Er setzt sich ruckartig auf.
Sie drückt ihn sanft zurück in den Sitz. »Ich wollte es selbst entscheiden, Michele, das wusstest du.«
»Mein Gott, Martha, das ist nicht wahr. Sag, dass es nicht wahr ist.« Seine Stimme wird laut, überschlägt sich.
»Doch, es ist wahr.«
»Wir fahren sofort in ein Krankenhaus …« Er greift zum Zündschlüssel.
»Das schaffen wir nicht mehr«, hält sie dagegen. »Ich will es auch nicht mehr schaffen. Und nun nimm mich einfach nur in den Arm.«
Als die Sonne aufgeht, schließt Martha die Augen.
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Über Annette Hohberg
Annette Hohberg hat Linguistik, Literaturwissenschaften und Soziologie studiert. Heute arbeitet sie als Journalistin.
Auf die Frage, woher sie die Inspirationen für ihre Romane hole, sagte sie einmal: »Ich lebe!« Die Schriftstellerin lebt in München, fühlt sich aber überall auf der Welt zu Hause. Was immer dabei sein muss: gute Bücher und gute Musik.
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Über dieses Buch
Man bereut im Leben nur das, was man nicht getan hat.
Als die Journalistin Martha an ihrem 50. Geburtstag von ihrer eigenen Feier verschwindet, stehen ihre Freunde und ihre Tochter Lina vor einem Rätsel: Warum hat sie ohne ein Wort das Haus verlassen?
Ohne einen festen Plan, nur mit ein paar Träumen im Gepäck hat sie sich aufgemacht
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