Das unendliche Blau
Canal Piccolo heißen müsste. Trotzdem sei er nett, dieser kleine Wasserlauf, der vom Meer in die Stadt hineinkrieche, entgegnete Martha und sah sich die Holzboote an, die hier vor Anker lagen und im Wind schaukelten. »Haben deine Eltern schon immer in Triest gelebt?«, fragte sie.
»Nein, nein, mein Vater kommt aus Rom. Dort hat er unsere Mutter kennengelernt. Aber als er sie nach Italien holen wollte, ging’s bei ihr nicht ohne ein bisschen K. und K. Daher Triest mit seinem Mittelmeer-Donau-Charme. Mama ist eben Wienerin durch und durch.«
Martha zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Na ja, immer ein wenig befindlich, wenn du weißt, was ich meine«, entgegnete Francesca, »mit einem leichten Hang zum Drama. Die große Oper eben.« Sie kicherte. »Aber alles in allem ist sie sehr süß, mein Vater liegt ihr noch immer zu Füßen.«
»Die wahre Liebe?«
»Sie tun zumindest so.«
»Das können nicht viele Ehepaare in dem Alter von sich sagen.«
»Wie war’s bei deinen Eltern? Ich meine, bevor dein Vater ins Heim kam?«
»Solange meine Mutter lebte, haderte sie mit ihrer Situation. Sie hat immer mehr gewollt, und insgeheim gab sie mir die Schuld, dass es nicht geklappt hat. Ein Kind als Bremsklotz. Ein Kind von einem Mann, den sie nie wirklich geliebt hat …« Meine Güte, unterbrach sie ihren Redefluss. Was erzählte sie dieser Frau, die sie gerade mal ein paar Stunden kannte? Selbst langjährige Freunde behaupteten, sie sei verschlossen, und nun tischte sie einer Wildfremden Dinge auf, die sie noch nicht mal der Therapeutin anvertraut hatte, zu der sie nach ihrer Scheidung gegangen war. Sie hatte die Sache damals nach drei Monaten hingeschmissen, weil es ihr sinnlos schien, über etwas zu reden, das nicht mehr zu ändern war. Sie war sowieso nie jemand gewesen, der viel geredet hatte. Als Zuhörerin war sie unschlagbar; diese Disziplin beherrschte sie. Und wenn es darum ging, das, was sie gehört hatte, in Worte zu fassen, machte ihr so leicht keiner was vor. Sie war eine gute Journalistin. Und gute Journalisten reden nicht viel.
»Ich bin mein Leben lang ehrgeizig gewesen«, gestand sie nun mehr den Booten in dem kleinen Kanal als der Frau neben sich. »Vielleicht weil ich meinte, meiner Mutter beweisen zu müssen, doch eine Daseinsberechtigung zu haben.«
Francesca nickte nur.
»Ich weiß auch nicht«, fuhr Martha fort, »warum ich dir gegenüber so offen bin.« Fast entschuldigend fügte sie hinzu: »Ich tue so was sonst nicht.«
»Was tust du nicht?«
»Anderen von mir erzählen.«
»Ist nicht immer ein Fehler. Aber manchmal passt es einfach. Und zwischen dir und mir – da passt es. Das hab ich mir schon gedacht, als ich dich auf der Mole sitzen sah.«
Martha lächelte.
»Kennst du Triest aus der Vogelperspektive?«, wechselte Francesca das Thema.
»Nein.«
»Dann lass uns hinauffahren in den Karst. Manchmal rückt es den Blick gerade, wenn man sich die Dinge von oben besieht.«
An der Piazza Oberdan bestiegen sie eine alte Zahnradbahn und suchten sich zwei Plätze gegenüber, auf Holzbänken, die mit rotem Leder bespannt waren. Sie setzten sich jeweils ans Fenster, hinter dunkelgelbe Vorhänge, die von kleinen Schlaufen festgehalten wurden. Die Gepäckablagen aus Holz erinnerten Martha an die Schlitten, mit denen sie als Kinder durch den Winter gefahren waren. An der Decke hingen Messinglampen, alles wirkte, als sei es auf Dauer angelegt, und irgendwie war es das ja auch. Seit über hundert Jahren ächze diese Bahn nun schon die Triester Hügel hoch, erzählte Francesca, während sie in Schrittgeschwindigkeit hinausfuhren aus dem Häuser- und Gassengewirr, vorbei an Blauregen, Holunder und Ginster.
Kurz vor der Endhaltestelle stiegen sie aus. Die Aussicht, die sich von hier auf die Stadt am Meer bot, ließ Martha tief Luft holen. Das Wasser hatte um diese Tageszeit bereits abendliches Glitzern aufgetragen, und ohne das allgegenwärtige Hupen der Autos und Rattern der Motorräder wirkte Triest leicht verschlafen.
»Ich komme oft hier rauf, wenn ich mich mal wieder geraderücken will«, sagte Francesca. »Dazu braucht man gelegentlich den Perspektivenwechsel.« Sie holte ihre Zigaretten heraus und bot Martha eine an. Die nahm an und gab beiden Feuer.
Eine Weile rauchten sie, ohne etwas zu sagen.
»Das Leben hat immer zwei Seiten«, meinte Martha schließlich.
»Stimmt, eine offensichtliche und eine, die man beim flüchtigen Hinsehen gar nicht wahrnimmt.«
»Na ja, viele schauen
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