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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Wulff
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ausgedacht. Nach dem Massaker um Hilfe gerufen habe er deshalb nicht, weil ihm klar war, dass alle Anzeichen auf ihn als Täter hinwiesen. Das Gericht hatte zwei schwierige Aufgaben zu lösen: anhand der Tatortspuren mögliche Szenarien für die Tötung jedes einzelnen der Besatzungsmitglieder und die Beseitigung ihrer Leichen zu rekonstruieren und zu überprüfen, ob sie mit der Schilderung der Tathergänge, die Saitsew gegeben hatte, vereinbar waren. Erschwert wurde die Lösung dieser Aufgaben dadurch, dass Saitsew erst nach dreimonatiger Prozessdauer zur Tat und zur Person auszusagen bereit war und die Verwertbarkeit seiner Aussagen von der dänischen Polizei mühsam überprüft werden musste. Außerdem musste geklärt werden, wie viel von dem Geld in Saitsews Seesack ihm selbst gehörte, wie viel den anderen Besatzungsmitgliedern und wie viel aus der Schiffskasse des Kapitäns kam, denn die Anklage zielte auf Mord aus Habgier. Bei so vielen Unsicherheiten gewann deshalb die Frage immer mehr an Bedeutung, ob ihm die Tötung von fünf Menschen am helllichten Tage überhaupt zuzutrauen war, sowohl von seinen physischen Kräften her, von seinen Kampferfahrungen beim Militär, als auch von seinem Charakter, seiner Wesensart her. Dazu mussten viele Zeugen, die ihn irgendwann besser gekannt hatten, befragt werden, um sich ein Bild über seine Lebensgeschichte und seine Handlungsmuster in verschiedensten Lebenssituationen machen zu können. So marschierten nicht nur seine Mutter und seine Freunde vor Gericht auf, sondern auch seine Lehrer und Ausbilder sowie seine ehemaligen Vorgesetzten beim Militär und auf den Schiffen, auf denen er vorher angeheuert hatte. Schießlich wurden auch die Angehörigen der Toten gefragt, ob sie bei Telefonaten mit ihren Brüdern, Söhnen und Ehemännern auf dem Schiff etwas über Saitsew und überhaupt über das Klima an Bord gehört hätten. Auch mein Gutachten gewann ohne mein Zutun eine über die ursprüngliche Überprüfung der Schuldfähigkeit weit hinausgehende Bedeutung, weil das psychologische Profil, das ich nachzuzeichnen suchte, in die Beurteilung von Saitsews Glaubwürdigkeit ebenso einging wie in die Einschätzung seiner Fähigkeit, die Taten, derer er angeklagt worden war, zu begehen.
    Als ich Saitsew in der JVA aufsuchte, fand ich einen sehr höflichen, literarisch gebildeten und sprachgewandten jungen Mann vor. Auch mit meinen bescheidenen Russischkenntnissen - natürlich war ich wieder mit einem Dolmetscher gekommen - konnte ich die ungewöhnliche Klarheit und Differenziertheit seiner Formulierungen nachvollziehen, in die er gelegentlich Zitate aus Tolstois und Tschechows Werken einwob. Aber nur über seine Lebensgeschichte war er bereit, mit mir zu sprechen, zu den Vorfällen auf der »Susanne« wollte er nichts sagen, wofür er sich höflich entschuldigte, seine Anwälte hätten es ihm so geraten. Auch von seiner Lebensgeschichte offenbarte er mir spontan nur ein ziemlich dürres chronologisches Gerüst. Saitsew war in einer Ostseehafenstadt als Einzelkind eines Schiffsmechanikers geboren worden, der alljährlich nur ein paar Monate bei der Familie verbrachte, die Mutter war Verkäuferin. Strenge Mutter, eher gewährender Vater, er selbst ein den Eltern und Lehrern stets gehorsames, respektvolles Kind - was ihn nicht daran hinderte, die Unzulänglichkeiten des Unterrichts zu Hause zu kritisieren. Die Schulzeit verlief dennoch unproblematisch nach der Devise, möglichst wenig aufzufallen, weder zu den Besten noch zu den Schlechtesten zu gehören. Seit frühen Jahren schon hatte er den Wunsch, Seemann zu werden wie der Vater, der ihn mit zehn, zwölf Jahren manchmal auf eine Fahrt mitnahm. Mit siebzehn wechselte er auf die höhere militärische Seefahrtschule, die ihn wegen seiner hervorragenden sportlichen Leistungen in der Leichtathletik gerne nahm und ihn auch als Taucher ausbildete. Während dieser Zeit lebte er in der Kaserne. Im dritten Schuljahr spezialisierte er sich auf Schiffsbewaffnung und Elektromechanik. 1987 beendete er die Schule als Ingenieur für Elektromechanik mit dem Rang eines Leutnants. Saitsew hatte wenige Freunde, weil er die abendlichen Trinkgelage seiner Kameraden nicht mochte und sich an ihnen nicht beteiligte. Stattdessen lernte er lieber oder las Bücher. Kontakte zu Mädchen suchte er nicht, hatte später auch keine intimeren Beziehungen zu Frauen, weil er, wie er sagte, dazu zu schüchtern war, aber auch weil er überhaupt kein größeres

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