Das Unglück der kleinen Giftmischerin
verdiente als ein Universitätsprofessor. Da habe er sich darauf besonnen, dass er noch aus seiner Militärzeit ein Patent als Kapitän für weite Fahrt besaß, und habe auf einem griechischen Schiff angeheuert.
Ganz ähnlich war es den meisten anderen ergangen: einer ehemaligen Staatsanwältin, die sich als Straßenverkäuferin durchschlug, einem arbeitslosen Armee-Hauptmann, der sich um eine Heuer auf einem ausländischen Schiff bemühte, und schließlich auch Saitsew selbst, der um des lieben Geldes willen seinen Lehrauftrag aufgegeben hatte und zu einem einfachen Matrosen geworden war. Sie alle hatten eine Deklassierung hinnehmen müssen, nur Professor Narusow, einem von Saitsews Lehrern, war es gelungen, seine Fähigkeiten als Militärpsychologe wenigstens in eine private Ausbildungseinrichtung hinüberzuretten, wenn auch ohne zu wissen, für wie lange. Seinen Rang beibehalten hatte anscheinend nur der stellvertretende Interpolchef der Moskauer Polizei: diese schien ihre Fachleute aus der Sowjetzeit weiterhin dringend zu brauchen.
Alle waren sie gut ausgebildete und gebildete Menschen gewesen, alle hatten bis zur Perestroika eine gesicherte berufliche und gesellschaftliche Position innegehabt. Die Deklassierung hatte sie bis ins Mark getroffen, ihren Stolz verletzt und die moralischen Grundsätze, nach denen sie bislang gelebt hatten, in Frage gestellt. Ich hatte den Eindruck eines Aufmarsches von Gespenstern, wie Balzac sie in seinen »Chouans«, einer Erzählung über die geschlagenen Royalisten der Vendee, beschrieben hat. Alle diese Zeugen schilderten Saitsew als einen hochintelligenten, lerneifrigen und zielstrebigen jungen Mann. Seine Mutter hob seine Bravheit als Kind und als Jugendlicher hervor, aber auch seine große Schüchternheit dem weiblichen Geschlecht gegenüber. Seine früheren Lehrer und Vorgesetzten sagten, dass er sich Autoritätspersonen gegenüber stets respektvoll und gehorsam gab, allerdings auch sehr genau und kühl zu kalkulieren wusste, was der Erreichung seiner Ziele am besten diente. Eine Distanziertheit und innere Kälte hatten die meisten von ihnen gespürt, manchen war er gar etwas undurchsichtig erschienen. Eines Massenmordes hielt ihn jedoch keiner für fähig, dazu sei er ein viel zu vorsichtiger Mensch.
Einer von ihnen, der ehemalige Mathematikprofessor und für eine Weile Saitsews Schiffskapitän, flüsterte mir während einer Sitzungspause auf dem Gerichtsflur auf Russisch zu, dieser Matrose sei ihm unheimlich gewesen, nur ungern hätte er ihn im Rücken gehabt, nein, nicht so wie man einen potenziellen Übeltäter auf einer dunklen Straße fürchtet, sondern eher so wie einen etwas Verrückten. Es sei eine Empfindung gewesen, für die er keine Erklärung hatte, vielleicht hinge diese Verrücktheit gerade mit Saitsews Neigung zu einer von keinerlei Gefühlen beeinflussbaren eisernen Logik zusammen - eine eigenartige Hypothese aus dem Munde eines Mathematikers, aber der Professor kannte natürlich die Anklage, so dass das aus ihr erwachsene Bild Saitsews seine Erinnerungen etwas überdeckt und verfärbt haben kann. Im Gerichtssaal wollte er von solchen Empfindungen nicht sprechen, dazu seien sie, so begründete er es mir gegenüber, zu flüchtig gewesen. Dort hatte er vor allem Saitsews hohe Intelligenz und seinen Lerneifer hervorgehoben.
Ich muss einräumen, dass es mir mit Saitsew nicht viel anders ging als seinem ehemaligen Schiffskapitän. Auch mir kam er undurchsichtig, sehr kühl und distanziert vor. Seine Neigung, alle Probleme dieser Welt an die Kette logischer Folgerungen zu legen, erschreckte auch mich, und Eugen Minkowskis Begriff eines »morbiden Rationalismus« kam mir in den Sinn, den dieser große phänomenologische Psychiater in der Paranoia am Werke sah.
Vor Gericht imponierte Saitsew durch seine rasche Auffassungsgabe, durch die Klarheit seiner Äußerungen und durch sein untrügliches, monumentales Gedächtnis. Noch nach drei Monaten Prozess hatte er jede Zeugenaussage, jedes Sachverständigengutachten parat und fand den geringsten Widerspruch sofort heraus. Er ließ es sich auch nicht nehmen, der schon sehr gründlichen Zeugenbefragung seiner Anwälte eigene Fragen anzuschließen, und nicht selten trat dadurch etwas bislang noch nicht Erwähntes oder eine Ungenauigkeit oder Ungereimtheit der Aussage zutage. Als er dann auch seine eigene Mutter in eine Art strenges Kreuzverhör nahm und sie dabei mit Frau Saitsew und Sie anredete, fragte ich mich, wo
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