Das Unglück der kleinen Giftmischerin
verleitet er jeden Einzelnen dazu, zu fordern, die Strafen für Sexualtäter zu verschärfen, die forensischen Anstalten und die Hochsicherheitstrakte der Strafanstalten zu total durchsichtigen Panzerglasfestungen zu machen, etwas weniger gefährliche Täter zu entmannen oder mit elektronischen Fußfesseln zu versehen. Noch ein Argument wird in diesem Zusammenhang gerne verwendet: Strenge Strafen seien nötig, um den Opfern und ihren Angehörigen die »Verarbeitung« ihrer Traumatisierungen zu erleichtern, d.h. im Klartext, ihre Rache- und Vergeltungsbedürfnisse zu befriedigen. Ja, solche Bedürfnisse werden nicht nur bei allen Opfern als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern sie werden ihnen auch abgefordert: Wer sie nicht hat oder unterdrückt, der wird seiner Opferrolle nicht richtig gerecht. Dass Strafbedürfnisse auch kollektiven Verdrängungsprozessen eigener sadistischer Regungen entsprechen können, diese Erkenntnisse Freuds, Abrahams, Reichs und anderer psychoanalytischer Forscher sind inzwischen so vollständig in Vergessenheit geraten, als hätte es sie niemals gegeben, ja es gilt sogar als politisch inkorrekt, sie überhaupt noch zu erwähnen.
So wird auch das Bild der forensischen Psychiatrie, die in den siebziger und achtziger Jahren angefangen hatte, auch einen Befreiungsdiskurs zu führen, in der Öffentlichkeit wieder vom Sicherheitsdiskurs beherrscht. In der Folge kommt es zur Verschärfung von Gesetzen, Vorschriften und Anstaltsordnungen, angestoßen von Bildern vergewaltigter und bestialisch ermordeter kleiner Mädchen (seltener: Jungen), von erstochenen oder erschlagenen Nachtschwestern (seltener: Taxifahrern), kurz von dem, was man in Frankreich »faits divers« nennt: sensationell aufgemachte Darstellungen von einzelnen Untaten an den verletzbarsten Mitgliedern unserer Gesellschaft unter Weglassung der Hintergründe, die zu ihnen geführt haben, und auch von Angaben über die Häufigkeit, in der so etwas vorkommt. Vielmehr wird der Eindruck erweckt, wir alle, wir und besonders unsere Töchter und Frauen, seien ständig von solchen Tätern bedroht, und es wird unsere Solidarität eingefordert, um überhaupt etwas gegen sie tun zu können. Das Fernsehen ist darin natürlich viel wirksamer, als es die Printmedien sind. Die Täter sind dort diejenigen, die »so etwas« machen. Sie haben, zunächst jedenfalls, in den Spots gar kein eigenes Gesicht, so dass jeder Zuschauer oder Leser sich selbst eines ausmalen kann. Erst später, wenn über den Prozess berichtet wird, bekommt man einen von ihnen manchmal zu sehen, und er wird dann für eine Weile zum Urbild des Bösen, bis der nächste ihn in dieser Funktion ablöst.
Ich mache mit diesen Geschichten den Versuch, dem Täterbild des Sicherheitsdiskurses andere, etwas komplexere Täterbilder entgegenzuhalten: Bilder, die Täter und Tat aus der mythologischen Ebene des Bestialischen und Bösen zurückholen auf die Ebene des gesellschaftlichen Geschehens und des allgemeinmenschlichen Alltags mit seinen Widersprüchen, seinen Konflikten und seinen schuldhaften Verstrickungen, seinen Chancen, aber auch seinen Kurzschlüssen und seinen Ausweglosigkeiten. Es geht mir darin nicht um eine Humanisierung, aber doch um eine Hominisierung des »Verbrechers« und auch des Verbrechens, ein Anspruch, den der französische Philosoph Alain Finkelkraut selbst an die Darstellung der Verbrechen Hitlers gestellt hat. Entmythologisieren möchte ich aber nicht nur die Täter, sondern auch die Gutachter. Einfälle und Vermutungen, die viel zu unsicher waren, um in den »amtlichen« Text Eingang zu finden, wurden dazu offen gelegt, selbst dort, wo sie einen abstrusen Charakter angenommen hatten, desgleichen meine Gefühle und Empfindungen, von denen im Prozess nicht die Rede sein durfte, wollte ich mich nicht selbst als befangen disqualifizieren. Auch der Gutachter ist ein lebendiger Mensch, der eine ihn prägende Lebensgeschichte hinter sich hat und schon deshalb aus einer immer auch subjektiven Perspektive an seine Aufgabe herangeht: So sehr er sich auch bemühen mag, objektiv und unvoreingenommen zu bleiben, er ist kein neutrales Medium wie ein chemisches Reagenz oder Lackmuspapier. Schließlich sind auch noch die Überlegungen eingeflossen, die heute aus der Rückschau, Jahre nach den Prozessen, erst aufgetaucht sind. Damit wollte ich zeigen, dass auch bei scheinbar noch so klaren Geschichten immer noch Fragen offen bleiben. Gewiss auch für die Leser, die nun
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