Das unsichtbare Grauen
ihre Anwesenheit nicht im geringsten zu stören schien. Merkwürdig nur, daß sie ihn nicht gesehen hatte.
All dies durchzuckte Sandra Kings geschultes Gehirn in Bruchteilen von Sekunden, während sie zur Tür eilte und öffnete. Der Eindringling hatte nicht mehr als zwei, drei Sekunden Vorsprung. Und dennoch war der Hotelflur menschenleer. Sandras Suite lag genau in der Mitte. Links und rechts erstreckte sich der Flur mindestens dreißig Meter, aber kein Mensch war zu sehen.
Es gab nur eine Erklärung. Der Unbekannte mußte in einem der benachbarten Zimmer verschwunden sein.
Vielleicht wohnte er dort, als angeblich harmloser Hotelgast.
Sandra schloß die Tür wieder. Während sie sich ankleidete, beschloß sie, den Hoteldetektiv zu unterrichten. Ein offensichtlich besonders geschickter Hoteldieb trieb hier im »Baur au Lac« sein Unwesen. Daran gab es keinen Zweifel.
Aber dann kamen ihr doch berechtigte Zweifel. Als sie nämlich den geöffneten Koffer untersuchte, stellte sie fest, daß ihre kleine Schmuckschatulle im Fach bei den persönlichen Papieren war. Der Hoteldieb jedoch hatte sie überhaupt nicht berührt. Obwohl Schmuck im Wert von einigen tausend Pfund Sterling darin enthalten war.
Wirklich seltsam! Was hatte er dann gesucht?
Sandra sah die Papiere durch, die sie mit sich führte. Eine Versicherungspolice ihrer Zürcher Lebensversicherung, die sie mit der hiesigen Direktion durchsprechen wollte. Einige Bankauszüge von »Barclay's Bank«, London. Und der Brief mit Ludmilla Andersons Einladung in ihr Chalet bei St. Moritz.
Täuschte sie sich? War der Brief nicht im Kuvert gewesen? Jetzt steckte er zwischen den anderen Papieren neben dem Kuvert. Hatte also dieser seltsame Hoteldieb nichts weiter als diesen total harmlosen Brief im Auge? Das war doch so gut wie ausgeschlossen. Es sei denn, es handelte sich um einen Autogrammsammler. Immerhin war Ludmilla Anderson ein internationaler Filmstar. Aber dann hätte der Eindringling den Brief ja mitgenommen. Und überhaupt - woher hätte er wissen sollen, daß Sandra King diesen Brief mit sich führte?
Nein, die Erklärung mußte eine andere sein. Sandra faßte im Geist zusammen: Jemand war in ihre Hotelsuite eingedrungen. Das stand fest. Er hatte aber weder Geld noch Wertsachen gestohlen, sondern sich für einige harmlose Papiere interessiert. Also waren diese Papiere nicht so harmlos. Oder aber, der unbekannte Besucher hatte sie für interessanter gehalten, als sich dann tatsächlich für ihn herausstellte. Dritte Möglichkeit: der Eindringling wollte herausfinden, was Sandra vorhatte. Nun gut, das wußte er jetzt. Skiurlaub bei St. Moritz hieß Sandras Absicht. Das allerdings hätte sie mehr oder minder jedem auch freiwillig erzählt. Es war kein Geheimnis.
Plötzlich zuckte sie zusammen. Ein Gefühl lief ihr über den Rücken, als riebe ihr jemand langsam einen Eiswürfel über das Rückgrat hinab. Natürlich war niemand da, weder mit, noch ohne Eiswürfel. Dennoch wußte Sandra, was dieses Gefühl bedeutete. Es war ausgelöst durch ihren Instinkt, der in vielen gefahrvollen Situationen geschult war.
Es bedeutete, daß sie sich beobachtet fühlte. Irgend jemand war mit ihr in diesem Raum!
Sandra King war furchtlos. Sie sah sich unauffällig um. Dort! Eine der Portieren hatte sich bewegt! Kein Zweifel.
Der unbekannte Eindringling hielt sich in einer Fensternische verborgen. Ein besonders geschickter Bursche! Ein außerordentlich geistesgegenwärtiger Mensch! Er mußte mit Lichtgeschwindigkeit erkannt haben, daß die Zeit nicht reichte, um auf den Flur zu laufen. Also hatte er die Tür nach draußen nur in Bewegung gebracht und Sandra dadurch abgelenkt, während er selbst sich hinter dem Vorhang der zweiten Fensternische versteckte.
Langsam und wie Zufällig näherte sich Sandra dieser Fensternische. Dann riß sie den Vorhang blitzartig zur Seite.
Sie kam nicht dazu, sich zu orientieren, denn sie erhielt einen kräftigen Stoß in den Magen, so daß sie wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging sie zu Boden. Wie durch einen Schleier sah sie, daß sich die Tür nach draußen öffnete und schloß. Der Eindringling aber sah sie nicht. Offenbar hatte der plötzliche Schmerz ihren Blick verschleiert. Sie brauchte geraume Zeit und einen kräftigen Schluck Kognak aus der Hausbar, um wieder zu sich zu kommen.
Als sie später das Kognakglas abstellte, fiel ihr Blick zufällig
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