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Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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    Er fuhr einen VW-Käfer von 1969; ein Foto davon wurde auf die Leinwand projiziert und nahm den Platz seines Gesichts ein. Na großartig. Er war siebenundzwanzig, ledig, angeblicher Teilzeitstudent - der perfekte Typ für so einen Wagen. Keine Aufkleber. Nichts, was auf politische Neigungen oder seine soziale Einstellung oder auch nur eine Lieblings-Baseballmannschaft hindeutete. Kein Parkausweis von einem College. Nicht einmal eine verblichene Händlerreklame. Der Wagen sagte ihnen gar nichts, außer daß sich sein Eigentümer am Rande der Mittellosigkeit befand.
    Der Mann, der den Projektor bediente und den größten Teil des Redens besorgte, war Carl Nussman, ein Anwalt aus Chicago, der nicht mehr in seinem ursprünglichen Beruf tätig war, sondern statt dessen seine eigene Juryberater-Firma leitete. Für ein kleines Vermögen konnten Carl Nussman und seine Leute jedem die richtige Jury zusammenstellen. Sie sammelten Material, machten Fotos, zeichneten Stimmen auf, ließen genau im richtigen Moment Blondinen in engen Jeans aufmarschieren. Carl und seine Mitarbeiter umschifften sämtliche Klippen von Gesetz und Ethik, aber man konnte sie einfach nicht dafür drankriegen. Schließlich war nichts Illegales oder Unethisches am Fotografieren potentieller Geschworener. Sie hatten vor sechs Monaten, dann noch mal vor zwei Monaten und vor einem Monat wieder erschöpfende Telefonumfragen in Harrison County durchgeführt, um herauszufinden, wie man dort über das Thema Tabak dachte und danach Modelle der perfekten Geschworenen auszuarbeiten. Sie ließen kein Foto unaufgenommen, keine schmutzige Wäsche unberührt. Über jeden potentiellen Geschworenen hatten sie eine eigene Akte.
    Carl drückte auf einen Knopf, und an die Stelle des VW trat ein nichtssagendes Foto von einem Mietshaus mit abblätternder Farbe; das Heim, irgendwo drinnen, von Nicholas Easter. Dann ein Klick, und wieder zurück zu seinem Gesicht.
    »Also haben wir nur die drei Fotos von Nummer sechsundfünfzig«, sagte Carl mit einem Anflug von Frustration, während er sich umdrehte und den Fotografen anfunkelte, einen seiner zahllosen Privatschnüffler, der erklärt hatte, er könnte den Jungen einfach nicht erwischen, ohne dabei selbst erwischt zu werden. Der Fotograf saß auf einem Stuhl an der hinteren Wand, mit dem Gesicht zu dem langen Tisch voller Anwälte, Anwaltsgehilfen und Jury-Experten. Er war ziemlich angeödet und hätte sich am liebsten verdrückt. Es war sieben Uhr am Freitagabend. Nummer sechsundfünfzig war auf der Leinwand, hundertvierzig standen noch bevor. Das Wochenende würde furchtbar werden. Er brauchte einen Drink.
    Ein halbes Dutzend Anwälte in zerknitterten Hemden und mit aufgerollten Ärmeln kritzelte endlose Notizen und schaute gelegentlich auf das Gesicht von Nicholas Easter dort hinter Carl. Alle möglichen Jury-Experten - Psychiater, Soziologen, Schriftanalytiker, Juraprofessoren und so weiter - hantierten mit Papieren und blätterten in daumendicken Computerausdrucken. Sie waren nicht sicher, was sie mit Easter anfangen sollten. Er war ein Lügner, und er verbarg seine Vergangenheit, aber auf dem Papier und auf der Leinwand sah er trotzdem okay aus.
    Vielleicht log er ja auch nicht. Vielleicht war er im vergangenen Jahr Student an irgendeinem billigen Junior College im Osten von Arizona gewesen, und vielleicht war ihnen das einfach entgangen.
    Laßt es dem Jungen durchgehen, dachte der Fotograf, sprach es aber nicht aus. In diesem Zimmer voller hochgebildeter und hochbezahlter Anzugträger war er der letzte, dessen Ansicht zählte. Es war nicht sein Job, auch nur ein einziges Wort zu sagen.
    Carl räusperte sich, warf noch einen Blick auf den Fotografen, dann sagte er: »Nummer siebenundfünfzig.« Das verschwitzte Gesicht einer jungen Mutter erschien auf der Leinwand, und mindestens zwei Leute im Zimmer brachten ein Kichern zustande. »Traci Wilkes«, sagte Carl, als wäre Traci eine alte Freundin. Rings um den Tisch herum wurden Papiere umgeschichtet.
    »Alter dreiunddreißig, verheiratet, Mutter von zwei Kindern, Arztfrau, Mitglied in zwei Country Clubs, zwei Fitneßclubs, einer ganzen Latte von Vereinen.« Carl rasselte diese Informationen aus dem Gedächtnis herunter, während er seinen Projektor bediente. An die Stelle von Tracis rotem Gesicht trat ein Schnappschuß, auf dem sie einen Gehsteig entlangjoggte, schweißglänzend in einem rosa und schwarzen Spandexanzug und fleckenlosen Reeboks und mit

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