Das Urzeit-Monstrum
nur, daß sich ausgerechnet jetzt keine Spaziergänger an diesen Strandabschnitt verirrten. Sie hätten eine zu leichte Beute für diesen Arm werden können. Überhaupt mußte er sich von der Vorstellung befreien, es nur mit einem Arm zu tun zu haben. Dazu gehörte sicherlich ein Körper, der aber war leider nicht zu sehen. Er mußte irgendwo unter dem Watt verschwunden sein. Eine andere Erklärung hatte Harry nicht.
Der Arm bewegte sich hin und her. Er schabte dabei über den Boden, als wollte er ihn glätten. An ihm klebte der Sand ebenso wie an Harrys Kleidung. Er rieb ihn automatisch ab – und wurde für einen Moment starr, als sich der Tentakel in die Höhe schwang.
Er tat es mit einer trägen Bewegung, als hätte er alle Zeit dieser Welt.
Manche Elefanten bewegten ihre Rüssel so träge, und als der Monsterarm eine bestimmte Höhe erreicht hatte, da blieb er für eine Weile in der Luft hängen.
Locker pendelte er hin und her. Vergleichbar mit dem abgeknickten Sehrohr eines U-Boots, das aus dem Wasser hervorschaute und erkunden wollte, ob die Luft rein war.
Harry Stahl zog sich sicherheitshalber noch weiter zurück. Er hatte sich leicht geduckt. Dieser Anblick vor ihm war schon rätselhaft und schlimm, und auf Harrys Rücken war eine Gänsehaut zurückgeblieben. Zudem war er davon überzeugt, nur einen Teil gesehen zu haben, der größere steckte noch tief im Watt verborgen.
Der lebende Schlauch, der ungefähr die Dicke zweier Männerbeine hatte, tanzte noch einmal über dem Boden, dann sank er zusammen, klatschte auf und zog sich zurück.
Sehr schnell glitt er über den flachen Boden hinweg in Richtung Wattenmeer. Eine Schleifspur zeichnete nach, daß es ihn überhaupt gegeben hatte, denn er war bald verschwunden. Das Wasser spritzte.
Die kleinen Eisinseln zerbrachen mit splitternden und knisternden Geräuschen. Schlamm wurde in die Höhe geschleudert, und dann war von diesem langen Tentakel nichts mehr zu sehen.
Dafür hörte Harry ein Geräusch. Über ihn hallte das helle Geräusch der Fahrradklingeln durch die Luft, und Stahl drehte sich um.
Oben auf der Böschung fuhren zwei Kinder mit ihren Fahrrädern vorbei.
Sie klingelten weiter, sie winkten Harry sogar zu. An Stangen flatternde Wimpel schickten ebenfalls Grüße herüber.
Harry atmete auf. Er war froh darüber, daß die Kinder kurz nach dem Verschwinden des Monsterarms erschienen waren. Vorher wäre es schlimmer gewesen.
Er war wieder allein. Tief atmete er durch. Trotz der Kälte fühlte er sich verschwitzt. Seine Kleidung sah aus, als hätte er sich durch Schlamm gewühlt. Im Hotel würde man ihn schon anstarren, wenn er zurückkehrte.
Aber das war alles zweitrangig. Ihm ging es um andere Dinge. Dieses Monstrum konnte er nicht vergessen. Wobei der Begriff Monstrum so nicht stimmte. Er hatte nur einen Teil davon gesehen, einen Arm, aber das hatte ausgereicht und gab natürlich zu zahlreichen Spekulationen Anlaß.
Wenn dieser Arm schon so dick und lang aussah, wie mochte dann erst der Körper erscheinen? Harry hatte keine Vorstellung von ihm, aber er beschäftigte sich schon mit dem Gedanken, daß ein derartiger Tentakel zu einem Riesenkraken oder einem ähnlichen Ungeheuer gehörte, das sich tief im Sand und Schlick des Watts vergraben hatte. Etwas Unheimliches hatte bisher das Licht des Tages gescheut, war möglicherweise Jahrhunderte über im Boden verborgen geblieben, aber nun hatte es den Weg nach oben angetreten und sich bereits Opfer geholt.
Es waren ja drei Menschen verschwunden. Deshalb hatte man Harry Stahl geschickt. Die Vorgesetzten in der geheimen Dienststelle waren beunruhigt gewesen, und Harry wußte nun, daß er hier keinen Urlaub verbringen würde, so gern er es auch getan hätte, denn er hatte die Insel bereits in sein Herz geschlossen.
Auf ihn wartete Arbeit. Was auch wieder relativ war, denn diesen Begriff setzte er mit einem anderen gleich – mit Horror.
Geschichten strichen durch seinen Kopf. In alten Büchern hatte er früher als Kind die Erlebnisse der Seefahrer gelesen. Da war oft genug von Meerungeheuern die Rede gewesen, und ein derartiges Ungeheuer hatte er hier auch gesehen. Zumindest wollte er den Gedanken nicht von sich weisen, denn was da aus dem Watt gekrochen war, das konnte rational nicht erklärt werden. Da steckte Böses dahinter. Irgendein Monstrum, das möglicherweise schon vor Jahrtausenden in der Erde gelauert hatte und nun zum Vorschein gekommen war.
Wieso? Warum erst jetzt? Gab es einen
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