Das verborgene Wort
schon gelebt und lebten noch immer. Rosenbaums Bücher waren glückliche Bücher. Sie wurden gebraucht. Wurden nicht hinter Glas erstickt wie bei der Frau Bürgermeister, mußten nicht auf dreistufigem Regal neben der Schrankwand mit dem Gummibaum konkurrieren wie im Wohnzimmer von Doris' Eltern, nicht strammstehen und Achtung, zugreifen! schreien wie beim Buchhändler. Diese Bücher waren Erwählte. Ein auserwähltes Volk. Große, kleine, dicke, dünne, Taschenbücher und gewichtige Lederbände standen einvernehmlich, mitunter augenzwinkernd, nebeneinander. Mochten ihre Verfasser zu Lebzeiten miteinander spinnefeind gewesen sein, dieser Leser gewöhnte sie an die Versöhnung. Manche Bücher lagen quer über den anderen, in vielen steckten Zeitungsausschnitte, die bei jedem Luftzug zum Nähertreten winkten, andere türmten sich in schiefen Stapeln auf dem Fußboden.
Zwei Tassen waren gedeckt, seine Frau, der, wie ich erst jetzt bemerkte, dicke, rote Narbenwülste über beide Handrücken bis in die langen Ärmelmanschetten liefen, brachte Kekse und Tee. Eine Stehlampe schnitt einen Lichtkegel aus der Dunkelheit, unter der Kanne brannte ein Kerzenstumpf. Rosenbaum hatte eine Achsel über die Sessellehne gehängt und die Beine weggestreckt. Eine Wolke von Wohlwollen ging von der bequemen Anordnung seiner Glieder aus, und seine streichholzlangen, eisgrauen Haare standen von seinem Kopf in alle Richtungen, ganz so wie einige Bücher in den Regalen.
Und jetzt, Fräulein Palm, zucken Sie nicht wieder mit den Achseln, wenn ich Sie frage, wie es Ihnen geht, begann Rosenbaum. Ihnen geht es schlecht. Das sieht, wer Augen im Kopf hat. Ich sage Ihnen auch noch mehr. Rosenbaum nahm den Arm von der Sessellehne und stellte die Füße zusammen, als sammle er Kraft für den nächsten Satz. Seine Augen, seine Haare, seine ganze Gestalt sprühte Funken. Ich duckte mich in meinen Bademantel.
Sie, Fräulein Palm. Sie trinken. Daß die Flasche ein Geschenk war, können Sie mir nicht weismachen. Ich möchte nicht wissen, was Sie heute in Ihrem Beutel haben. Wahrscheinlich schon wieder Nachschub. Sie bewegen sich auf einen Abgrund zu. Sehen Sie dem ins Auge. Wollen Sie als Trinkerin enden?
Hätten mir meine Geister beigestanden, Rosenbaum hätte etwas zu hören gekriegt. Doch auch ohne ihre Hilfe reichte meine Empörung, dem Lehrer klarzumachen, daß ich mit einer, die trinkt, das Wort Trinkerin brachte ich nicht über die Lippen, nichts, aber auch gar nichts gemein habe. Hin und wieder einen Schluck Spiritus verde oder Spiritus herbes, ein Gläschen in Ehren, sei reine Medizin, »täglich einen Underberg, und du fühlst dich wohl<. Mit Trinken habe das nicht im mindesten zu tun. Ich wisse, was Trinken sei. Wenn der Vater nach Hause komme, mit dem Kopf vor den Schrank knalle und umfalle wie tot; wenn der Onkel auf Familienfeiern verschwinde und nach Stunden torkelnd und lallend aus der Wirtschaft wiederkomme, das sei Trinken. Bier und Schnaps: das ist Trinken. Spiritus verde, Kräutergeister: reine Medizin.
Rosenbaum hatte sich in seinem weichen Sessel kerzengerade aufgerichtet. Jede Spur von Behagen war von ihm gewichen. Unter meinen Sätzen hatte er sich in einen unerbittlichen Richter verwandelt.
Was denn? Spiritus verde! Spiritus herbes! Das ist Schnaps. Hochprozentiger Fusel! Medizin? Machen Sie sich doch nichts vor! Sie trinken nicht. Sie saufen. Nennen Sie die Dinge doch beim Namen. Den richtigen! Spiritus verde! Ja, das klingt schön. Aber mit schönen Wörtern allein ist gar nichts getan. Im Gegenteil. Sie verkleistern die Sache nur. Aber Dinge bleiben Dinge. Tatsachen bleiben Tatsachen. Sie können üble Tatsachen nicht mit schönen Wörtern aus der Welt schaffen. Saufen bleibt Sau-fen. Fusel bleibt Fusel. Und wenn Sie ihn bei jedem Schluck Spiritus verde nennen. Spiritus verde! Wie kommen Sie bloß darauf?
Spiritus, spiritus sanctus, stotterte ich kleinlaut, der Geist aus der Flasche, weil er grün ist. Verde, steht im >Stowasser<.
Rosenbaum lachte kurz auf, wurde aber gleich wieder ernst. Phantasie haben Sie. Das haben Sie ja auch mit Ihrer Jahresarbeit, Ihren beiden Jahresarbeiten bewiesen. Aber was machen Sie mit Ihrer Phantasie? Ihrer Begabung? Sie nehmen mit ihr vor der Wirklichkeit Reißaus, anstatt sich mit aller Phantasie in sie hineinzubegeben, um sie zu bestehen. Worum geht es denn für einen, der die Wörter so liebt wie Sie? Wörter und Dinge zusammenzubringen, darum geht es. Das ist Wahrheit. Die Vertreibung
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