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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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auf dem Durchgang zu den Toiletten zog Rosenbaum die Kordel des Beutels auseinander. Scherben, ein aufgeweichtes Reclamheft, >Die schönsten Gedichte der Romantik<, ein Kamm, ein Taschentuch, ein Portemonnaie.
    Rosenbaum sah mich schweigend an. Ich wollte die Frage in seinen Augen nicht verstehen.
    Das war ein Geschenk. Für die Großmutter. Da, da ist ja auch noch das Papier.
    Das Papier war da, zerknüllt, eingerissen, abgeschabt.
    Ein Geschenk, aha, sagte Rosenbaum und klaubte den Flaschenhals aus den Scherben. Am Schraubverschluß blätterte die Farbe vom vielen Auf- und Zudrehen.
    Was ist los mit Ihnen, Fräulein Palm? Sie sind doch nicht mehr Sie selbst. Aber hier, Rosenbaum deutete auf die Türen für >Da- men< und >Herren<, ist nicht der Ort, darüber zu reden. Sie sollten jetzt nach Hause fahren. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich nächste Woche besuchen kämen. Paßt Ihnen der Dienstag?
    Wann hatte mich das letzte Mal jemand gefragt, ob mir etwas paßte? Mit Tränen in den Augen sagte ich ja.
    Auf den naßkalten Sommer war ein milder, ebenso nasser Herbst gefolgt. Anfang November trugen die Obstbäume noch dichtes Laub, winkten die Birkenzweige vor dem Bürofenster mit grüngoldnen Blättern, nur die Pappeln am Rheinufer standen kahl.
    Es dämmerte schon, als ich am Dienstag mein Fahrrad durch das Werkstor schob. Ich kürzte den Weg nach Großenfeld ab, hielt durch die Felder am Möhnebusch vorbei, schräg aufs Hold-
    Schlößchen zu, über steinige, aufgeweichte Wege mit Pfützen, die im Zwielicht schimmerten wie geschmolzenes Blei. Einen Augenblick hatte ich wohl geträumt. Das Vorderrad bockte, stockte, drehte zur Seite, versank in einem tiefen Wasserloch, das Rad kippte um. Ich lag im Matsch, im Dunkeln, die neue, fast volle Flasche auf einem hoch und spitz herausgewaschenen Feldstein zersplittert. Vorsichtig leerte ich den Matchbeutel, säuberte ihn, so gut ich es in der Dunkelheit vermochte. Ich klemmte den schlappen Beutel unter den Gepäckträger, trat in die Pedale und wäre beinah zum zweitenmal gestürzt, diesmal vornüber. Aus dem Vorderreifen war die Luft raus.
    Nieselregen setzte ein. Ich machte mich auf den Weg. Mit Goethe und Schiller und allen andern, sagte, was ich von ihnen auswendig wußte, vor mich hin wie der Pilger seine Gebete auf der Fahrt ins Heiligtum. Drostes >Knabe im Moor< und das >vogelin< Walthers, all die Wanderlieder von Eichendorff, seine >Mondnacht<, das >Reh<; Mörikes >dunkle Frühe<, seine >gelassene Nacht<, >Herr, schicke, was du willst<. Wackernagels >Geduld bringt Rosens das mir der Lehrer im zweiten Schuljahr ins Poesiealbum geschrieben hatte, Uhlands >guter Kamerad< und >Droben stehet die Kapelle<. >Üb immer Treu und Redlichkeit<, sang ich und >Am Brunnen vor dem Tores sang die >Loreley< und >Mit dem Pfeil, dem Bogen<. Als mir die Gedichte ausgingen, griff ich auf die Kirchenlieder zurück, >Komm Schöpfer Geists sang ich, >kehr bei uns ein, besuch das Herz der Kinder dein<, aufrauschend flog ein Nachtvogel aus den Büschen bei Schloß Plaach, >0 Haupt voll Blut und Wundem. Mir taten die Füße weh. Die Schuhe durchgeweicht, nur die Eisen an Spitze und Absatz schrammten mitunter einen Stein, der sich durch die nassen Sohlen bohrte.
    Rosenbaum hatte nicht mehr mit mir gerechnet. Seine Frau, zierlich, dunkelhäutig, viel Grau in den schwarzen Haaren und mit klugen, tiefen Augen, die aus ihren Höhlen sahen wie zwei uralte Vögel, Märchenvögel, Meropsvögel, führte mich gleich ins Bad. Helene, sagte ihr Mann zu ihr.
    Ausziehen, alles, kommandierte sie liebevoll, schaute weg, als ich meine schwarz verfärbte Unterwäsche auszog. Ich durfte mich in einen Bademantel hüllen, wie ich ihn von Doris kannte, weich, weiß, ein bißchen zu schwer und zu füllig. Er duftete zart, empfindlich, ein leichter Hauch, nicht zu vergleichen mit der aufdringlichen Parfümwolke im Theaterbus. Helene, flüsterte ich und schmiegte mein Gesicht in die weiten Ärmel des Mantels.
    Rosenbaum saß in einem Zimmer, wie ich noch keines gesehen hatte. Ohne Schrank, ohne Schrankwand, keine Anrichte, Sitzecke, Couchgarnitur. Bis auf einen dunklen Schreibtisch und zwei geräumige Sessel an einem kleinen runden Tisch war der Raum leer. Und Bücher. Bücher vom Fußboden bis unter die Decke. Ich wußte kaum, wo ich hinschauen sollte, machte ein paar Schritte in das Zimmer und drehte mich einmal langsam um die eigene Achse. Es sah fast aus wie beim Buchhändler, doch diese Bücher hatten alle

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