Das verbotene Glück der anderen
hat es viel früher angefangen, aber erst mit fünf merkte er, dass es sich um ein seltsames Leiden handelte. Er erlebte nämlich Momente, in denen einer oder mehrere seiner Sinne nicht mehr arbeiteten. Ein paar Minuten lang oder manchmal sogar eine Stunde lang wurde er taub oder blind oder beides. Manchmal konnte er nicht mehr zwischen Gesichtern unterscheiden, sodass alle für ihn identisch aussahen. Ganz selten einmal spürte er auch nichts, selbst wenn er sich mit einer Nadel stach oder sich anderweitig verletzte, was er oft versuchte, um zu begreifen, was mit ihm los war.»
«Hat er sich das alles nicht nur eingebildet?»
Somen lacht leise und provozierend auf, reagiert aber nicht auf Ouseps Frage. Er erzählt seine Geschichte weiter, als sei die Frage unwesentlich.
Unni ist nicht erschrocken über das, was mit ihm geschieht. Da er noch ein Kind ist, betrachtet er es als Spiel. Er stellt sich vor, in ihm lebe ein Mensch, ein Freund, den er Abu nennt und der mit seinen Sinnen spielt – sie anschaltet und abschaltet. Mit etwa sieben Jahren hat er Abu dann abgelegt.
Als er zehn ist, kommt etwas Neues hinzu. Zwar fallen seine Sinne weiter gelegentlich aus, aber er erlebt jetzt auch Augenblicke, in denen sich seine sinnliche Wahrnehmung intensiviert. Er behauptet, die Oberflächenbeschaffenheit einer Ameise sehen zu können oder Leute in allen Einzelheiten wahrzunehmen, die Hunderte von Metern entfernt sind, und er behauptet, er könne Dinge hören, die andere nicht hören können. Unnis Geruchs- und Geschmackssinn sind jedoch unverändert und sogar leicht unterentwickelt. Den Unterschied zwischen dem Geruch von Kaffee und Tee nimmt er kaum wahr.
Diese versagenden und gesteigerten Sinneswahrnehmungen erlebt er immer nur kurz. In manchen Phasen ereignen sie sich täglich, dann wieder bleiben sie tagelang aus. Er erzählt seiner Mutter davon, sie nimmt ihn jedoch nicht ernst, weil er ihr so glücklich und aufgeregt von seinen Zuständen erzählt und nicht darüber klagt. Mit der Zeit beschließt er, weder seiner Mutter noch sonst jemandem von seiner Verfassung zu erzählen. Er ist glücklich über seinen merkwürdigen Zustand und wartet sogar gespannt darauf, was ihm als Nächstes widerfährt.
Unni hat eine magische Kindheit, in der er seine Sinne manchmal verliert und dann wieder Dinge sieht, die er nicht sehen soll. Im Alter von etwa vierzehn Jahren verschwinden die außergewöhnlichen Zustände.
«Er wurde normal. Seine Sinne wurden konstant. Er wartete Wochen und Monate, doch die Zustände von früher kamen nicht wieder. Seine Erfahrung hatte ihm jedoch eine Einsichtvermittelt, die er nie mehr vergaß: dass die Welt eine Farce ist, die durch das Zusammenwirken der Sinne geschaffen wurde. Er stellte keine philosophischen Betrachtungen an. Es ist wesentlich, dass Sie das verstehen, Ousep. Während ich tiefer in Unnis Geschichte dringe, denken Sie sich natürlich Ihre eigenen Erklärungen aus und stellen sich immer wieder vor, Unni habe abstrakte philosophische Gedankengänge verfolgt. Doch in Wirklichkeit hat er nur seine Erfahrung in etwas Verstehbares umgewandelt. Als ein Junge, für den sich die Wirklichkeit dauernd änderte, je nachdem, was in seinem Gehirn an- oder ausgeschaltet wurde, konnte er deutlicher als jeder andere sehen, dass die Wirklichkeit nichts als ein Mythos der Sinne ist. Wenn man ein Phänomen nicht erfährt, sondern akzeptiert, handelt es sich um Philosophie, die eine Art Religion ist. Doch es zu erfahren, ist etwas anderes. Eine Erfahrung ist eine schlichte Tatsache, Erfahrung ist Wahrheit.»
Dieser Junge überbewertet die Erfahrung, doch Ousep ist nicht hier, um ein Streitgespräch zu führen. Er will ihm so viel wie möglich entlocken, bevor er es sich anders überlegt und ihn wegschickt. Der Junge ist nicht so stabil, wie Ousep glaubte, als er das Zimmer betrat. Somen verfällt oft in Schweigen, als lenkten ihn geisterhafte Gedankengänge ab. Ab und zu mustert er seine eigene Hand oder seinen nackten Fuß und wirkt dann überrascht, dass sie vorhanden sind. Doch er redet zusammenhängend.
«Deshalb fühlte sich Unni zu Cartoons hingezogen», sagt der Junge. «Dass sie alles verzerrten, die Wirklichkeit karikierten, gefiel ihm sehr. Er konnte die Welt und das, womit sie vorrangig beschäftigt war, nicht ernst nehmen. Wenn die Welt der Mythos der Sinne ist, dann ist auch die Kunst beinah sinnlos. Wen will man lesen, was will man schreiben, was für Musik will man hören, was kann
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