Das verbotene Glück der anderen
Gutes.
Dorai nimmt seine Sachen vom Tisch und blickt Thoma in die Augen. Er schnipst mit den Fingern und sagt: «Komm mit.» Er wartet vor dem Klassenzimmer, und Thoma geht zu ihm. Dorai kommt mit seinem Gesicht ganz dicht an das von Thoma.
«Thoma», sagt er, «dein Vater hat mich gestern angerufen. Weißt du, warum?»
«Nein, Sir.»
«Er hat mich zu Unni befragt. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr weiß, als ich ihm schon gesagt habe. Dein Vater fragt jetzt eine Menge Leute aus. Warum?»
«Ich weiß es nicht, Sir.»
«Warum stellt er seine Fragen ausgerechnet jetzt?»
«Ich weiß es nicht.»
«Es heißt, er hätte etwas über Unni herausgefunden. Weißt du etwas darüber?»
«Nein, Sir.»
«Bist du dir sicher?»
«Ich habe keinerlei Information», sagt Thoma.
Mariamma macht Thoma geistesabwesend lächelnd die Tür auf, widmet sich ihm kurz liebevoll und wendet sich dann wieder Menschen zu, die nicht da sind. Sie existieren in einer anderen Zeit, in ihrer Jugend, als die anderen so wichtig für sie waren, dass sie sich an alles, was sie zu ihr gesagt haben, genau erinnert. Heute, Jahrzehnte später, gibt sie ihnen Antwort, und sie reagieren wahrscheinlich darauf, während sie irgendwo weit entfernt allein durch ihre endlosen Kautschukplantagen streifen, manchmal über Mariammas Erinnerungen lächeln und manchmal ihren finsteren Blick erwidern.
Unni hat Thoma erzählt, dass ihre Mutter ein
Leiden
hat, für das es einen Namen gab – als ob die Tatsache, dass es sich benennen ließ, die Sache besser machte. Thoma hat den Namen vergessen, obwohl Unni ihn erwähnt hatte. Es war ein wichtiger, jedoch sehr männlich klingender Name. «Es ist keine schwere Krankheit, Thoma, viele vollkommen glückliche Menschen leiden darunter.»
Sie ist in der Küche, hat ihren Sari an der Seite hochgerafft und das Saumbündel in die Taille gestopft. Thoma sieht ein langes, schmales Stück von ihrem nackten, beachtlichen Oberschenkel.Nur zu Hause sieht er derartig viel von einem Frauenbein. Mariamma hat die Lippen eingezogen und droht dem Küchenschrank über ihr mit dem Zeigefinger. «Annamol Chacko», sagt sie und zitiert wieder einmal Ouseps Mutter herbei. «Mein Tee hat Euch also nicht geschmeckt. Ihr und Eure neun dummen Töchter, ihr sitzt da, flüstert miteinander und lacht über meinen Tee. Als sei ich Luft, sagt Ihr: ‹Diese Tasse Tee hat Mariamma gekocht, es ist Tee, den eine diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin gemacht hat.› Und dann lacht ihr alle.»
Sie sieht, dass Thoma sie anstarrt, und lächelt zuerst verlegen. Dann fängt sie schallend an zu lachen. Ihr plötzliches Glück verschafft Thoma ein
wohliges Gefühl
. An anderen Tagen klingt ihre Stimme laut und zittrig und wie Wehgeschrei; sie nennt Ouseps Mutter bei all ihren Taufnamen und seine neun Schwestern ebenfalls, und ganz selten einmal spricht sie höchst förmlich mit ihrer eigenen Mutter und jemandem namens Philipose. Wenn sie sich in diesem Zustand befindet, zieht sie die Lippen ein, hält den hocherhobenen Kopf schräg und droht mit dem Zeigefinger. Was um sie herum geschieht, nimmt sie dann nicht mehr wahr. Unni konnte sie in Nullkommanichts aus dieser Stimmung herausholen, sie zum Lachen bringen und von ihren
qualvollen Erinnerungen
befreien. Unni brauchte nur einen Witz zu reißen, und schon machte sie kein wütendes Gesicht mehr, sondern sah wieder schön aus und fing an, sich vor Lachen zu schütteln. Thoma jedoch fehlt diese Gabe.
Seine Mutter überrascht ihn mit einer Tüte Cashewnüssen und sagt: «Thoma, der Arzt, der mit dem Rosengarten, ist tot. Es war ein Herzinfarkt.» Sie sitzen sich am Esstisch gegenüber und essen die Nüsse. Anders als man es von diplomierten Wirtschaftswissenschaftlerinnen gewohnt ist, steckt sie sich die Cashewnüsse nicht in den Mund, sondern wirft sie hinein. Unni nannte sie immer «Dörflerin».
Als junges Mädchen, sagt sie zu ihm, als hätte sie ihm das noch nie erzählt, ging sie immer mit ihren Freundinnen am Ufer des schmalen, silbernen Flusses entlang und sammelte Cashewnüsse und Kiesel auf. Und wenn nichts mehr in ihre Rockschöße passte, warfen sie immer ein paar Cashewnüsse weg. Warum sie jetzt für Cashewnüsse Geld bezahlen soll, leuchtet ihr nicht ein.
Sie wiederholt sich – so ist sie nun einmal. «Hunger ist der beste Koch, Thoma», sagt sie öfters. Und wenn er am Morgen vor einer Prüfung noch verzweifelt lernt, sagt sie immer: «Das ist typisch für dich, Thoma, du fängst
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