Das verbotene Glück der anderen
Sportlehrer nachäffte: «Kämpf, Thoma, zeig’s ihnen.» Das sagte er jedes Mal, wenn Thoma im Morgengrauen Mathe zu lernen versuchte, oder wenn er aufs Kricketfeld ging, um als Elfter den Ball zu schlagen, oder als er Fahrradfahren lernte. Thoma hat diese Worte zu seiner Hymne erhoben – Kämpf, Thoma, zeig’s ihnen. Sie gefallen ihm, weil sie deutlich machen, was er tun muss, ohne zu erwähnen, was dabei herauskommt.
Als Erstes muss er seiner Mutter etwas beichten und sucht sich dafür den besten Zeitpunkt aus – wenn sie in der Küche ist und das Geschirr spült. Er steht neben dem Herd und betäubt ihren Verstand, indem er alles Mögliche vor sich hin nuschelt, einschließlich des
nationalen Treueschwurs
und der ersten beiden Strophen von Walter Scotts «Lochinvar», bis er schließlich zu beten beginnt, was für sie eine Form des Schweigens ist: «Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, ich habe Padminis Schlüpfer gesehen. Zu uns komme Dein Reich, Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden.»
Mutter spült ungerührt weiter, doch Thoma findet, dass er gebeichtet hat.
In einer Stunde wird Thoma in seinem Zimmer liegen, das er früher mit Unni teilte, und sich schlafend stellen. Sein Vater kann jeden Moment zurückkommen. Thoma fällt ein tamilisches Sprichwort ein, über dessen schlichte Wahrheit er einst verblüfft war – «Man kann einen Menschen wecken, der schläft, aber keinen, der sich schlafend stellt.» Genau dies versucht Thoma jeden Abend, wenn sein Vater ihn aufwecken kommt. Aber er hält nie lang genug durch und steht immer irgendwann auf. Heute jedoch hat er fest vor, mit geschlossenen Augen dazuliegen,komme, was wolle. Selbst wenn man an Thoma zieht und zerrt oder ihn tritt, wird er liegen bleiben wie ein toter Hund.
Dann schläft er wider Erwarten ein und wird vom fernen, klagenden Klang der begnadeten Stimme seines Vaters geweckt: «Guten Abend, ihr lieben Bankbeamtendreckskerle.» Ousep steht wahrscheinlich am Tor des Wohnblocks. Jeder muss ihn gehört haben, aber glücklicherweise hat er es auf Malayalam geschrien, das hier niemand versteht. Doch dann wiederholt Ousep seine Begrüßung auf Tamil. Wie üblich schämt sich Thoma und hofft, dass Mythili es nicht gehört hat, er hofft, dass sie tief und fest schläft. Es herrscht eine lange, entsetzliche Stille, die ganze fünf Minuten dauert. Er hört, wie die Haustür aufgeht. Sein Vater ist nach Hause gekommen. Wie immer kommt seine Mutter zu Thoma ins Zimmer und sagt: «Sei stark, Thoma, hab keine Angst. Ich bin bei dir. Was bin ich, Thoma? Sag mir, was bin ich?»
«Du bist der Fels.»
«Ja, ich bin der Fels.»
Er hört seinen Vater brüllen: «Wo ist meine geliebte Frau, die geliebte Tochter eines Kautschukpiraten?» Thoma weiß, dass sie auf dem Küchenboden in der Ecke sitzt, neben dem Mörser, wo sie in solchen Fällen immer sitzt. Ousep steht in der Diele, zeigt auf verschiedene Gegenstände und fragt: «Was ist das? Was ist das?» Dann verstummt er. Jetzt ist er wahrscheinlich in seinem Zimmer, sitzt am Schreibtisch und schreibt wie immer seinen eigenen Nachruf.
Dann hört man ein lautes Krachen. Er hat wieder einmal den Bester-Schriftsteller-Preis durchs Zimmer geschleudert, einen silbernen Engel auf einem Holzsockel. Diesen Preis bekam Vater in jungen Jahren vom Ministerpräsidenten von Kerala verliehen. Damals war er berühmt, sagt seine Mutter, aber das ist lange her. Als der Preis in die Wohnung kam, schaute der Engel noch geradeaus,doch je öfter Vater ihn durch die Gegend warf, desto mehr legte die Dame den Kopf in den Nacken, und heute blickt sie etwas heroisch zur Zimmerdecke empor.
Thoma hört seinen Vater grunzen, er geht durch die Diele, kommt zur Schlafzimmertür, geht aber daran vorbei in die Küche und dann anscheinend auf den hinteren Balkon. Thoma hört ihn schreien: «Doktor, ich hab gehört, dass Sie tot sind! Stimmt das, Doktor? Vor vier Wochen haben Sie mich etwas gefragt. Tut mir leid, dass ich Ihnen damals keine Antwort geben konnte. Dafür antworte ich jetzt. Er ist wässrig, Sie Mistkerl, mein Stuhl ist wässrig. Fragt man den berühmten Ousep Chacko so was, wenn man ihm zum allerersten Mal begegnet? Wie ist ihr Stuhl, Mr Chacko? Wie ist denn Ihrer heute, Sie Schwachkopf?»
Thoma bekommt fast einen Lachanfall, doch dann hört er, wie Ousep seine Mutter anschreit – «Büffelfrau», nennt er sie. Thoma will zu ihr, hat aber Angst. Ousep hat seine Mutter noch nie
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