Das verbotene Glück der anderen
verschwindet sie vom Balkon. Er steht da und schämt sich. Wie so oft versinkt er in tiefe Betrübnis. Unni hatte immer gesagt: «Thoma, du bist niedergedrückt und fühlst dich jetzt so weit unten wie die Eier eines Dackels.»
Thoma geht nach unten, um mit den anderen Kricket zu spielen. Das Team vergisst oft, dass es ihn überhaupt gibt. Ein Junge aus einer anderen Wohnsiedlung stellt die Spieler auf und erklärt Thoma rüde, wo er zu stehen hat. Tony ist ein Flüchtlingaus Sri Lanka. Wie kann ein Flüchtling Thoma sagen, wo er in seinem eigenen Land zu stehen hat? Doch Thoma hält den Mund, der Flüchtling ist viel älter und stärker als er. Noch rasender macht Thoma, dass Tony den Kopf hebt und nach oben blickt. Das tun hier alle erwachsenen Jungen jede halbe Minute – diejenigen auf dem Spielfeld, die an der Spielfeldgrenzmauer und die, die außen auf dem Weg stehen. Sie alle blicken dauernd nach oben, um zu sehen, ob Mythili ihnen zuschaut. Ihr Balkon ist längst zu einem Heiligtum geworden, das Jungen und Männer von weither magisch anzieht. Sie stolzieren auf dem Pfad vor ihr auf und ab. Selbst die Straßen-Romeos mit ihren nassen Haaren und dunklen Sonnenbrillen kommen in ihren besten Kleidern, zu Fuß, auf dem Fahrrad oder dem Motorrad. Wenn sie dann auf den Balkon tritt, ist es, als hätte jemand eine Zirkusglocke geläutet, damit die Clowns unten mit ihrer Vorstellung anfangen können. Sie machen dann Kunststücke auf ihren Rädern, und die Jungen aus den Slums tanzen Michael Jacksons «Moonwalk», und zwar so, als hätten sie diesen Tanz nie einstudiert, sondern seien damit geboren. Wenn Mythili auf dem Balkon steht, werden auch die Jungen aus der Wohnsiedlung munter und glücklich, sie rennen schnell, werfen so wild wie möglich, beleidigen einander, verletzen die kleineren Jungen, unterhalten sich laut über intelligente Themen – Wörter wie «Perestroika» und «GATT» schwirren herum. Dabei werfen sie schnelle Blicke nach oben, um nachzusehen, ob sie noch da ist. Doch Mythili steht normalerweise mit leerem Blick da oder verschwindet. Meistens kommt sie erst gar nicht auf den Balkon.
Thoma kann sich nicht auf das Spiel konzentrieren, seine Gedanken schweifen ab. Acht Mädchen in seinem Alter sitzen auf der Mauer und schwatzen. Padmini spreizt ausnahmsweise unverhofft die Beine, sodass er ihre rote Unterhose sehen kann. Sie sitzt weiterhin breitbeinig da und unterhält sich. Ihr Anblickhypnotisiert ihn. Obwohl er weiß, dass, was er tut, ein Verbrechen ist, kann er die Augen nicht abwenden. Wird sie jetzt, da er sie so gesehen hat, überhaupt noch heiraten können?
Wenn die Sonne sinkt, verschwinden die Kinder in die Häuser, nur Thoma geht noch auf der Spielwiese umher. Die Angst vor der Abenddämmerung überkommt ihn, und er hofft, dass die Nacht ohne größere Zwischenfälle vergeht, was nie der Fall ist.
Er beschließt, nicht sofort nach Hause zu gehen, sondern noch die drei Treppenhäuser hinauf- und hinunterzulaufen und die Nachbarn zu belauschen. Er will gerne wissen, was in den anderen Wohnungen vor sich geht. Einmal hörte er, wie ein Mann seinen Sohn anschrie, weil er in Mathe nur fünfundneunzig Prozent erzielt hatte. «Wo sind die anderen fünf Prozent, wo sind sie, wo sind die fünf Prozent geblieben?» Dann geschah etwas, was dem Jungen Heulkrämpfe bescherte. Die Stimme des Mannes sagte: «Hier sind deine Kleider. Nimm das Geld mit, verlass sofort das Haus und such die fünf Prozent. Komm erst wieder, wenn du sie gefunden hast.» Der Junge bettelte, bleiben zu dürfen. Thoma saß auf der Fußmatte und hielt sich vor Lachen den Bauch. An manchen Tagen hörte er Freunde schreien, deren Väter sie mit einem glühenden Löffel jagten, weil ihre Söhne in den Prüfungen nicht gut genug abgeschnitten hatten. Das war jedoch eher selten. Normalerweise wurden sie nur verprügelt. Während ein Mann seinem Sohn eine Tracht Prügel verpasste, sagte er: «Das einzige System, das für einen Inder zählt?»
«Das Dezimalsystem», gab der Junge zur Antwort.
Dann ein harter Schlag und ein Stöhnen.
«Das einzige System, das für einen Inder zählt?»
«Das Dezimalsystem.»
Doch meistens hörte er fröhliche Stimmen, von Familien, die beieinander saßen und redeten, sangen und lachten, umgeben vom Duft ihrer unerreichbaren Mahlzeiten.
Angst macht sich in Thomas Magen breit, er kann sie nicht mehr ignorieren. Wieder muss er eine Nacht überstehen. Unnis Worte im Ohr, mit denen er immer den
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