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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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zu spät an mit der Lernerei. Erst wenn du dringend aufs Klo musst, suchst du nach deinem Hintern.» Fast jeden Tag predigte sie Unni, wie sich große Jungen Mädchen gegenüber verhalten sollten. Sie dürfen sie nicht belästigen, keine «unanständigen Bemerkungen» machen, ihnen ungeachtet ihres Alters physisch nicht zu nahetreten und sie nicht anfassen. Weil Thoma für diese Verhaltensregeln noch zu jung ist, hat sie mit ihren Predigten aufgehört. Und noch etwas erwähnt sie nicht mehr: Immer wenn sie erfuhr, dass das Kind einer berufstätigen Frau schlimm gestürzt oder von einem Fahrrad angefahren oder von einer Kuh umgerannt worden war, rief sie Unni und Thoma zu sich und sagte: «Seht ihr, das passiert Kindern, deren Mütter arbeiten gehen. Ihr seid in Sicherheit, weil eure Mutter immer bei euch ist, vergesst das nie.» Jetzt, da Unni tot war, hat sie kein Recht mehr, so etwas zu sagen.
    «Wieso essen wir plötzlich Cashewnüsse?», fragt Thoma. «Im Herz-Jesu-Laden muss man Cashewnüsse bar bezahlen. Sie gelten nicht als
unverzichtbares Grundnahrungsmittel
. Hast du schon wieder einen Armreif verpfändet?»
    «Ich hab keine Armreifen mehr.»
    «Hast du dein Blut verkauft?»
    «Nein, Thoma. Ein Haufen Frauen sind in unsere Wohnung gekommen,um das Haus des Arztes vom Balkon aus zu sehen. Und alle wollten mit ihren Männern telefonieren und wissen, ob mit ihnen alles in Ordnung ist. Jede hat mir dann eine Rupie dagelassen. Wenn in der Nachbarschaft jemand stirbt, denken die Frauen an ihre Ehemänner. Auch ich habe ausgiebig und liebevoll an deinen Vater gedacht.»
    «Weil der Arzt heute gestorben ist, esse ich jetzt also Cashewnüsse.»
    «Genau.»
    «Wundersam Geht Es Auf Der Welt Zu.»
    «Ja, wundersam, mein Junge.»
    «Und Wundersam Verschlungen Sind Die Wege Des Herrn.»
    «Wundersam verschlungen sind die Wege des Herrn.»
    Thoma geht auf den hinteren Balkon und sieht sich das Haus des Arztes an. Vor der Haustür steht eine Menschenmenge, und alle sprechen leise über den Todesfall, so, als wollten sie verhindern, dass der Tote von seinem Tod erfährt. Er mustert den Balkon links nebenan, der nur einen Meter weit entfernt ist. Dort ist niemand zu sehen, aber sie kann jeden Augenblick auftauchen und mit einer Haarspange im Mund ihre Haare zurückwerfen, wie es ihre Art ist. Er spürt sein Herz bis zum Hals schlagen.
    Wenn Mädchen ihr Haar zurückwerfen und Haarspangen im Mund haben, wenn sie, bevor sie sich setzen, ihren Rock glatt streichen und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischen und hinters Ohr stecken, oder wenn sie lachen müssen und dabei die Hand vor den Mund halten, wenn sie all diese unbenennbaren Dinge tun, oder wenn er sie im Chor «I have a dream» singen hört, dann dreht sich Thoma das Herz im Leib herum, und er wünscht ihnen alles Gute im Leben. Regt sich etwas in seinem Körper, das ein Mädchen mit solcher Liebe erfüllen kann? Sehnen sich Frauen überhaupt auf dieselbe Weise nach Männern wie Männer nach Frauen? Wenn er Mythili sieht, packt ihn kaltesEntsetzen. Ringen Frauen auch mit solchen seelischen Höllenqualen, bekommen sie eine kalte Kehle, und empfinden sie tiefen, unsteten Kummer?
    Mythili Balasubramanium taucht auf und wirft, genau, wie er es sich vorgestellt hat, ihre dichte Haarpracht nach hinten und fasst sie dann über dem Kopf zusammen, als wollte sie sich am eigenen Schopf nach oben ziehen. Und zwischen ihren mürrischen Lippen steckt eine Haarspange. Sie hat große, kluge Augen. Manchmal steht sie auf dem Balkon und malt sich die Augen an: Ihre Augäpfel quellen hervor, wenn sie unter jedem Auge mit einem dicken Stift einen Strich zieht, als wollte sie sagen «Das ist mein Auge». All dies – auch das Haareschütteln – macht sie nur auf dem hinteren Balkon. Mit offenen Haaren auf dem vorderen Balkon zu stehen, erlaubt ihre Mutter nicht. Mythili trägt noch ihre Schuluniform – einen grünen Faltenrock mit weißer Rüschenbluse. Mit ihren sechzehn Jahren ist sie viel älter als Thoma. Genau wie alle anderen hat sie keinerlei Respekt vor ihm, und das weiß er. Schließlich kommt er aus einer seltsamen, düsteren Familie, dem Zuhause von Unni, dessen Namen sie nicht mehr ausspricht, obwohl sie ihn sehr gern hatte. Als er vor drei Jahren starb, war sie ein harmloses kleines Mädchen.
    Thoma fasst sich ein Herz und sagt: «Ich esse gerade Cashewnüsse.» Sie reagiert nicht, so, als hätte sie ihn nicht gehört. Gerade will er es noch einmal sagen, da

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