Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
vier quadratischen Pfeilern getragen wurde.
»Jeder Tempel in China hat eine Sonnenuhr«, sagte Ni. »Das erinnert die Gläubigen daran, dass die Tugend immer leuchten sollte, genau wie die Sonne zur Mittagszeit. Ein guter Rat, den wir lange vernachlässigt haben.«
»Glauben Sie das, was Pau Wen Ihnen gesagt hat?«
»Kein Wort.«
»Ich hatte gehofft, dass Sie nicht so einfältig sind.«
»Es gibt eine Geschichte, die jeder Soldat bei der Ausbildung lernt«, erzählte Ni. »Ein großer Feldherr namens Chao belagerte mit einer Armee von vierzigtausend Mann eine Stadt, die von einer winzigen Truppe gehalten wurde. Ihr Befehlshaber war ein Mann namens Zhang. Nach vierzig Tagen gaben die Bewohner der Stadt ihre Kinder im Tausch gegen Nahrung fort. Aber Zhang weigerte sich, die Stadt zu übergeben, und köpfte sogar die Offiziere, die sich dafür aussprachen. Schließlich gingen Zhangs Soldaten die Pfeile aus. Daraufhin befahl er den Einwohnern, tausend schwarz gekleidete, lebensgroße Puppen anzufertigen. Dann ließ er eines Nachts die Puppen mit Seilen über die Stadtmauern hinab. Chaos Männer schossen Zehntausende von Pfeilen auf die Figuren ab, die sie zunächst für fliehende Feinde hielten. Die Pfeile blieben in den Strohpuppen stecken, und diese wurden wieder hochgezogen. Aus einem völligen Mangel an Munition war so Überfluss geworden.«
»Ein schlauer Kerl.«
»Es geht noch weiter«, erzählte Ni. »Später in derselben Nacht ließ Zhang fünfhundert seiner tapfersten Männer an den Seilen hinunter. Auf Chaos Seite glaubte man, das seien wieder nur Strohpuppen, und schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Zhangs Männer stürmten Chaos Lager und schlugen den schlafenden Feinden die Köpfe ab. Chaos Truppen gerieten in Unordnung und zogen sich zurück.«
Malone begriff, worauf Ni hinauswollte.
»Zhang hat eine Position der Schwäche in eine der Stärke verwandelt. An diese Lektion habe ich mich bei meinem Gespräch mit Pau erinnert. Wir hatten keine Munition mehr, und so habe ich es wie Zhang gemacht und unsere Waffen mit seiner Hilfe nachgeladen. Er will unbedingt auf der Siegerseite stehen, und das habe ich ausgenutzt.«
Malone konnte nichts gegen diese Strategie einwenden.
»Aber ich werde schließlich die Tür schließen, um einen Dieb zu fangen.«
Malone lächelte, wohl wissend, was dieses Sprichwort bedeutete. »Den Feind umzingeln. Alle Fluchtwege abschneiden.«
Ni nickte. »Auch das hat man uns beigebracht. Aber bei diesem Vorgehen muss man fünf Dinge im Kopf behalten. Erstens muss man eindeutig die Oberhand haben, um die Tür schließen zu können. Zweitens muss es eine Tür geben, die man überhaupt schließen kann. Drittens kann man nicht passiv darauf warten, dass der Dieb eindringt. Man muss ihn hereinlocken. Viertens muss man die Tür zur rechten Zeit schließen, so dass der Dieb auch tatsächlich eingesperrt wird. Und fünftens müssen zusätzlich alle anderen Auswege verschlossen sein.«
Malone begriff, was Ni getan hatte. »Sie haben Pau also fälschlich in Sicherheit gewiegt.«
»So wie er es in Belgien mit mir versucht hat.«
»Dieses Gefasel, dass er Tang die Ölprobe vorenthalten hat. Er hat alle gegeneinander ausgespielt, alles versucht, was in seiner Macht stand. Sie, Ni, waren ihm scheißegal.«
Ni nickte. »Er ist ein Lügner und Betrüger. Ich habe ihn einfach mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Aber was blieb mir für eine Wahl? Wir sind in seinem Revier. Hier ist ein gefährlicher Ort. Er hat mir angeboten, mein Verbündeter zu sein, und so habe ich angenommen. Aber ich versichere Ihnen, zur rechten Zeit werde ich alle Türen schließen.«
»Und was ist mit der Devise, dass man Gewalt vermeiden sollte?«
»Männer wie Pau Wen sind der Grund, warum China scheitert. Sie sind das Krebsgeschwür unserer Gesellschaft. Es wird Zeit, dass sie genau das zurückerhalten, was sie so freigebig austeilen. Legalismus ist nichts anderes als Opportunismus. Er verlässt sich auf Gewalt und Terror, um Achtung zu erzwingen. Ich werde diesen Leuten das geben, was sie verstehen und was sie lange Zeit als einzige Möglichkeit des Regierens dargestellt haben. Das scheint mir nur gerecht.«
Malone stimmte ihm zu.
»Und wenn ich jeden Mann in der Regierung und im Militär dazu zwingen muss, die Hosen runterzulassen, ich werde China von allen Eunuchen säubern.«
Er nahm die Veränderung in Nis Stimme wahr – ein Selbstbewusstsein, das vorher nicht da gewesen war – und fragte: »Sie
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