Das verbotene Tal
Leute hatten ihr schon das Herz ausgeschüttet,
ohne daß die Telefonistin das Vertrauen je enttäuscht hätte. Sie plauderte
freundlich, gab Ratschläge, sagte ihre ungeschminkte Meinung — und alle hatten
sie gern.
Endlich läutete sie zu Boomers Mutter
durch, und es dauerte eine ganze Weile, bis Frau Bates an den Apparat kam.
„Ruth Martin!“ rief sie. „Wie fein, daß
Sie anrufen. Eben wollte ich Dr. Wilson bitten, Sie zu warnen.“
Ruth zuckte zusammen. „Den Arzt? Wovor
sollte er warnen?“
„Boomer hat seit gestern einen roten
Ausschlag und hohes Fieber. Der Doktor meint, es seien ganz bestimmt die
Masern. Hat Ihr Junge sie auch schon?“
„Aber nein. Er ist gesund, hoffe ich.
Nun, ich schaue sofort mal nach!“ rief Ruth erschrocken aus.
„Na, wo doch die beiden dauernd
zusammenstecken, bekommt Ihr Timmy die Masern bestimmt auch!* prophezeite
Boomers Mutter munter. „Na, wir telefonieren noch mal, wie?“
Sie plauderten noch eine Weile, und
auch Fräulein Jenny steuerte ein paar gute Ratschläge bei. Endlich konnte Ruth
einhängen.
„Boomer hat die Masern“, sagte sie zu
ihrem Mann. „Sollen wir da Timmy nicht lieber zu Hause behalten?“
Timmy und Lassie kamen eben mit dem
Eierkorb herein, und der Junge hatte Moms letzte Worte gerade noch erlauscht.
„Zu Hause, Mom?“ Erschrocken blieb er
in der Tür stehen. „Warum denn?“
Ruth eilte auf ihn zu und drehte ihn
so, daß ihm die Sonne voll ins Gesicht schien. Aber sie konnte keine rosigen
Flecke entdecken. Auch die Stirn war kühl, zweifellos fieberfrei.
„Was ist denn los, Mom?“
„Boomers Mutter sagt, ihr Junge bekäme
die Masern. Fühlst du dich ganz gesund, Junge?“
„Na klar!“ Timmy runzelte die Stirn. „Was
ist das: Masern?“
„Da bekommst du am ganzen Körper rosa
Flecke, fühlst dich ganz heiß und mußt ein paar Tage im Bett bleiben.“
Timmy musterte seine bloßen Arme.
„Ich habe keine Flecken!“ Fast klang es
ein wenig enttäuscht.
„Und Fieber hast du auch nicht“,
bestätigte Ruth erleichtert. Vielleicht bekam Timmy doch keine Masern.
„Muß ich nun zu Hause bleiben?“ fragte
Timmy listig.
Paul und Ruth wechselten einen
fragenden Blick. Dann runzelte Paul die Stirn.
„Willst du etwa ganz allein angeln
gehen?“
„Nein, nicht allein — Lassie ist doch
bei mir!“ Er schlang den Arm um Lassies Nacken. „Sie angelt liebend gern!“
Onkel Petrie lachte vor sich hin,
während er den Hut aufsetzte, um in den Stall zu gehen. Er wußte, daß die
Eltern ja sagen würden! Wie konnte man diesen großen, bittenden Augen auch
widerstehen? Auch er hätte zugestimmt, wenn man ihn gefragt hätte. Pfeifend
ging er hinaus. Er hörte gerade noch, wie Paul sagte:
„Na, ich glaube... da keine Anzeichen
von Fieber da sind
Lächelnd ging Onkel Petrie weiter. Ruth
schwieg eine Weile.
„Schön, Timmy“, meinte sie dann. „Aber
versprich mir, wieder heimzukommen, ehe die Sonne hinter den Bergen versinkt.
Und du, Lassie, paß gut auf, verstanden?“
Lassie bellte und wedelte mit dem
Schwanz. Dann packte sie Timmys Ärmel mit den Zähnen und zerrte ihn zur Tür.
„Holla!“ lachte Ruth. „Willst du nicht,
daß ich euch etwas zum Mittagessen mitgebe?“
Sofort ließ Lassie den Jungen los und
lief zu dem Sims, auf dem Timmys Körbchen stand. Sie stellte sich auf die
Hinterpfoten und packte den Korb am Henkel. Dann trottete sie zum Spülstein, wo
Ruth auf dem Brett gewöhnlich die Brote schmierte. Sie stellte den Korb ab,
trat zurück, drehte sich um und bellte laut, als wolle sie zu Ruth sagen:
„Ich habe mein Teil getan — nun bist du
dran!“
Alle drei lachten, und Ruth rief: „Jaja,
ich verstehe!“
Schnell packte sie etwas Schmackhaftes
ein und vergaß auch nicht den fleischigen Knochen für Lassie.
Minuten später schauten Paul und Ruth
vom Vorplatz des Bauernhauses den beiden Wanderern nach. Timmy trug die
Angelrute über der Schulter und das Fernrohr in der Hand, während Lassie, den
Henkel des Korbes im Maul, neben ihm hertrottete.
„Hoffentlich paßt er auf!“ seufzte Ruth.
„Nach dem Unwetter ist das Bachufer sicherlich glitschig.“
„Nur keine Sorge“, lächelte Paul. „Lassie
wird schon dafür sorgen, daß ihm nichts passiert.“
VERBOTENES LAND
Von Martins Hof bis zum Wald war es
fast ein Kilometer. Zunächst wuchsen die Bäume noch recht verstreut, und
überall zeugten Baumstümpfe davon, daß die Siedler von Calverton hier vor
langer Zeit das Holz für ihre
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