Das Verheissene Land
Morgen waren die Tirganer ins kalte Wasser gewatet und hatten die Langschiffe aufs Meer hinausgezogen, doch ein Schiff war liegen geblieben. Es war die Tigam, das Langschiff, das Bran in Arborg bekommen hatte. Vom Bug bis zum Achtersteven maß es fünf von ihren eigenen Booten. Der Mast war auf das Deck gelegt worden, doch noch immer war das Schiff ein gewaltiger, Anblick. Fast zwei Körperlängen über dem Strand wölbte sich die Reling vom Bug nach achtern und das gigantische Steuer hing wie ein Drachenfuß auf der Steuerbordseite des Achterstevens. Taurollen und Segel waren auf dem Deck bereitgelegt worden. Ebenso die Bronzeschilde, die an der Reling befestigt werden sollten. Der Querbaum glänzte ölig. Er ruhte quer auf dem Schiffsdeck. Der Häuptling war in den letzten Tagen fleißig gewesen, und bald würde die Tigam bereit für das Meer und die lange Reise nach Westen sein.
Der Einbeinige begann zum Strand hinunterzuhinken. Bei jedem Schritt blieb er stehen und blinzelte zu dem Schiff hinüber. Er hatte erwartet, die Brüder hier zu sehen, doch die einzigen Wesen, die er am Strand erkennen konnte, waren die Möwen, die in den Tanghaufen stocherten.
»Bran? Dielan? Seid ihr hier?« Er blieb stehen und lauschte.
Auf einmal tauchte ein bärtiger Kopf aus der Mittelluke des Decks auf. Dielan kletterte an Deck und winkte ihm mit ausgestreckter Hand zu. Die Möwen flogen auf und glitten mit gereizten Schreien über die Wellen.
»Turvi!« Der junge Mann schritt über einen Stapel Felle und kletterte über die Reling. Er hatte schmale Schultern und dunkle Haare, und als er von der Reling nach unten sprang, hob sich sein Hemd und entblößte einen mageren Bauch.
»Warte dort! Ich werde dir helfen.« Dielan wischte sich die Hände an seiner schmutzigen Lederhose ab und hastete den Hügel hinauf.
Der Einbeinige hob abwehrend die Hand. »Mach mit deiner Arbeit weiter, Dielan. Ich komme bloß, um mit euch zu reden.«
Dielan erreichte den Fuß des Hügels und stieg mit langen Schritten nach oben. Der Einbeinige streckte ihm die flache Hand entgegen, als wolle er ihm noch einmal erklären, dass er keine Hilfe brauchte. Doch Dielan hastete die letzten Schritte empor und legte Turvis Arm über seine Schulter. Dann fasste er den Alten um den Rücken und stützte ihn so.
»Seid ihr heute weitergekommen?« Der Einbeinige humpelte voran und der junge Mann folgte ihm aus alter Gewohnheit.
»Wir sind dabei, ein paar Spalten im Bug abzudichten.« Dielan strich sich die Haare in den Nacken. Der dichte, schwarze Bart war im Laufe des Winters lang geworden und der Alte war noch immer überrascht über diesen Anblick. Er ahnte kaum, wo die Jahre geblieben waren, und manchmal sah er noch den Jungen vor sich, wenn er an Dielan dachte. Turvi erinnerte sich an die Abende vor der Feuerstelle in der Felsenburg, wenn der kleine Junge in die Flammen gestarrt und sich bei den Geschichten über Krieger, Götter und ferne Länder fortgeträumt hatte. Damals waren die fernen Länder nichts als Worte gewesen und niemand, nicht einmal der Vogelmann, wusste, was geschehen sollte.
Der Alte krallte seine Finger in den dicken Lodenstoff von Dielans Hemd. Wie viel seit damals geschehen war! Kraggs Warnung, die Lawine und die Schlacht gegen die Vokker; die Zeichen hatten sie aufs Meer hinausgetrieben, in Richtung des Landes aus Brans Traum. Und Nojs Volk war zu Brans Volk geworden, aus dem Felsenvolk waren ein Volk des Meeres geworden.
»Jetzt sind wir unten.« Dielan lächelte den Einbeinigen an und gab ihm die Krücke »Bran war gerade dabei, Harz über den letzten Spalten zu schmelzen, als du gerufen hast; er war fast fertig.« Dann ging er zum Schiffsrumpf und klopfte mit den Knöcheln gegen das Holz. »Bran! Turvi möchte mit dir sprechen.«
Innen im Rumpf knirschte es. Dielan trat ein paar Schritte zurück und sah zur Reling auf, und der Einbeinige stützte sich auf seine Krücke und streckte den Hals. Bald erhob sich an Deck eine Gestalt. Der langhaarige Mann trug einen grauen Umhang, der über seinen gekrümmten Rücken fiel. Er hielt einen großen Kessel in den Händen und ging vorsichtig zwischen den Tauen und Tonnen hindurch, die an Deck standen. Dann hob er den Kessel über die Reling und reichte ihn Dielan.
»Er ist warm.« Er sprach leise wie ein kranker oder alter Mann.
Dielan zog sich das Hemd aus und legte es auf seine Handflächen, ehe er den Kessel entgegennahm. Dann stellte er ihn rasch in den Sand, ehe er wieder zu dem
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