0976 - Die Leichen der schönen Charlotte
Sie hieß Charlotte. Das hatte sie am Telefon gesagt. Und sie hatte ihm den Weg beschrieben. Zudem hatte sie noch hinzugefügt, wie sehr sie sich über sein Kommen freute.
Das wollte er einmal dahingestellt sein lassen, denn zum reinen Vergnügen war er nicht um diese Stunde erschienen. Noch knapp dreißig Minuten bis Mitternacht, doch Mädchen wie diese Charlotte waren immer im Dienst. Auch in der Nacht, denn sie verdeckte alles. Besonders die dunklen Triebe der Menschen.
Dick Stevens lächelte, als er daran dachte. Es war ein bitteres Lächeln. Er fühlte sich plötzlich noch unwohler, ging zur Seite, wobei sich sein Gesicht verzog, als er von einem Blatt gestreift wurde, das von einem tiefhängenden Ast hing.
Jetzt sah er auch den Brunnen. Möglicherweise war er ihm schon vorher aufgefallen, nun schälte er sich deutlicher hervor. Ein Brunnen wie hundert andere auch, nichts Besonderes, gemauert, aus der Erde hervorschauend, aber auf eine gewisse Art und Weise anders. Er konnte den Grund nicht nennen, er wußte auch nicht, weshalb dieses Frösteln über seinen Rücken rann.
Eine Vorahnung?
Er atmete tief aus. Ein kalter Schauer rann den Rücken hinab. Das Herz klopfte schneller, und Dick ärgerte sich darüber. Nicht daß er hier die Nerven verloren hätte, aber es war ihm schon komisch, diese Reaktion an sich zu spüren.
Er ging auf den Brunnen zu. Das Haus hatte er vergessen. Der Brunnen zog ihn an wie ein Magnet aus Eisen. Und immer wieder ließ er seine Blicke wandern, wobei er die Augen bewegte wie jemand, der schielte.
Süß, blond und lieb, hatte sie in der Anzeige geschrieben. Eine junge Frau, die Männerträume erfüllte. - Träume, die aber auch tödlich enden konnten.
Es gab den Verdacht, und Dick Stevens war angesetzt worden, um ihn zu einem Beweis werden zu lassen.
Nichts war zu hören. Satt und dicht lag die Stille über der Umgebung. Das Wolkenmeer schwebte dunkel über ihm. Es sah gar nicht so weit entfernt aus, dennoch war es sehr weit weg und verdeckte zudem das Licht der Gestirne.
Das Erdreich war ebenfalls dunkel. Hier und da wuchsen kleine Grasinseln. Sie waren so dicht wie das gesunde Haar auf dem Kopf eines Menschen.
Wo steckte sie?
Im Haus? Er wollte nicht daran glauben. Es war einfach zu dunkel. Er war als Kunde erschienen.
Sie hätte ihm eigentlich eine Nachricht zukommen lassen können, das aber hatte sie nicht getan.
Weder optisch noch akustisch, und so befürchtete er, in eine Falle gelockt zu werden.
Dick grinste hart. Er schüttelte den Kopf. Falle! Beinahe hätte er sogar gelacht. Wie oft hatte man versucht, ihn, den verdeckten Ermittler, in eine Falle laufen zu lassen. Aber das war der Gegenseite nie gelungen. Er hatte sich immer wieder herauswinden können. Er hatte diese Fallen gerochen, und auch hier würde er nicht hineintappen. Vor allen Dingen dann nicht, wenn sie von einer Frau gestellt wurde. Daß sie ihn erschießen würde, daran konnte er nicht glauben, obgleich sich seine Gestalt trotz der Dunkelheit deutlich vom Boden abhob.
Der Wind flüsterte nur. Er war kühl. Am nächsten Tag sollte es wärmer werden, aber bis dahin hatte er noch Zeit, viel Zeit sogar. Außerdem konnte in den folgenden Stunden noch viel geschehen.
Der Brunnen stand im Weg.
Dick Stevens lächelte über sich selbst. Er hatte ihm nichts getan, doch kam er ihm deplaziert vor.
Zugleich strömte der Brunnen etwas aus, mit dem er nicht zurechtkam. Er war mitten in das Gelände hineingesetzt worden, einfach so, ohne Motiv und…
Er blieb stehen.
Nicht grundlos.
Das helle Frauenlachen hatte ihn erschreckt!
***
Dick Stevens bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er brachte seine Hand auch nicht in die Nähe der Waffe und versuchte, sich zu entspannen und locker zu sein.
»He!«
Ein leiser Ruf nur, aber er hatte ihn gehört. Und diese Stimme war dort erklungen, wo sich auch der Brunnen befand.
»Komm her!«
»Ich bin schon da.«
»Ja, ich sehe dich.«
»Dann zeig dich, Charlotte…«
»Toll, daß du meinen Namen behalten hast.« Es folgte ein Kichern, das ihm etwas zu schrill klang.
Aber er sah die Bewegung am Brunnen, und zwar an der Seite, gegen die er nicht schauen konnte.
Jemand schob sich hinter dem Mauerwerk hervor, und Dick Stevens hielt unwillkürlich den Atem an, weil er einfach das Gefühl hatte, einem Engel zu begegnen. Es war eine helle Gestalt, die sich in die Dunkelheit hineindrückte und sich dabei aus dem Schatten des Brunnens löste. Hell und blond.
Jung und
Weitere Kostenlose Bücher