Das Verlies
Wollten Sie in Ihrem tiefsten Innern, wo sich der liebe kleine Rolfi versteckt, verlieren? Denn Rolfi kam mit dem Druck nicht mehr klar, den Rolf auf ihn ausübte. Hier der kleine Rolfi, der behütet und beschützt werden will, da der große, böse Rolf. Verbessern Sie mich, wenn ich falsch liege.«
Lura wich Durants Blick zum ersten Mal aus. Er schwieg. »Wer würden Sie lieber sein, Rolfi oder Rolf?«
»Matthias«, antwortete er leise. Durant sah ihn verwundert an.
»Wer ist Matthias?«
»Das ist mein zweiter Vorname. Müsste eigentlich in Ihren Akten stehen.«
Durant sah nach und nickte.
»Sie wären also gerne Matthias. Warum?«
»Weil er liebevoll wäre. Rolf war nie gut, nur manchmal. Der Rolf, den Sie jetzt hier vor sich sitzen sehen, ist ein schlechter Mensch. Und ich hasse Rolfi, denn er existiert nicht, höchstens in der Fantasie meiner Mutter. Aber Matthias wäre ich gerne gewesen. Ich bin mein Leben lang zu Dingen gezwungen worden, die ich nicht wollte. Das soll keine Entschuldigung sein, sondern lediglich eine Feststellung. Ich weiß, es gibt Menschen, denen es schlechter geht, das haben Sie selbst gesagt. Aber ich kann michnicht mit jemandem aus den Favelas oder Klongs vergleichen, ich bin in völlig anderen Verhältnissen groß geworden. Fragen Sie meine liebe Mutter, welche Chance sie mir gegeben hat. Sie hat mich nicht in den Kindergarten gehen lassen, ich durfte nie Freunde mit nach Hause bringen, weil das Haus ja dreckig werden könnte. Also hatte ich keine Freunde, denn Freunde sind schlecht, sie verderben einen nur, und Mamilein weiß sowieso alles besser … Aber kommen Sie jetzt bloß nicht auf den Gedanken, ich könnte eine gespaltene Persönlichkeit sein, das bin ich nicht. Matthias wollte Psychologe werden, Rolf musste ein Autohaus übernehmen, schließlich ging es um die Tradition und eine streng konservative Einstellung zum Leben. So konservativ, dass es zum Kotzen ist … Sie waren doch bei meinen Eltern. Wie haben Sie es dort empfunden? Kalt, steril, leblos, tot? Machen Sie sich nichts draus, so sieht es dort aus, seit ich denken kann. Keine Freunde, kein Besuch, alles muss vierundzwanzig Stunden lang sauber sein. Sauberer als in einem dieser Labore für Mikrochips im Silicon Valley. Sie müssten mal den Garten sehen, kein Grashalm länger als zwei Zentimeter, aber auch keinen Millimeter kürzer. Die Schuhe werden an der Haustür ausgezogen, auf ein Tuch gestellt, und dann muss man Hausschuhe anziehen. Wenn man aber mal vor die Tür gehen will, dann müssen wieder die Straßenschuhe angezogen werden, und sei es nur, dass man die Zeitung oder die Post aus dem Briefkasten holt. Jeden Morgen gibt es auf die Sekunde genau um sieben Uhr Frühstück, Mittags wird um Punkt zwölf gegessen, danach exakt eine Stunde geruht, Abendessen gibt es um achtzehn Uhr. Während des Essens darf nicht geredet werden, und wenn Wolfram und ich es doch einmal getan haben, wurden wir bestraft …«
»Von Ihrer Mutter?«
»Von wem spreche ich denn die ganze Zeit? Das heißt, Wolfram wurde bestraft, indem er zum Beispiel eine Woche lang nicht fernsehen durfte oder zwei Wochen Stubenarrest hatte, im schlimmsten Fall würdigte ihn meine Mutter tagelang keinesBlickes, sie sprach nicht mit ihm, sie machte ihm kein Essen, sie ignorierte ihn einfach.« Er nahm sich noch eine Zigarette, inhalierte tief und schloss für einen Moment die Augen.
Durant fragte: »Und was hat sie mit Ihnen gemacht?«
»Nichts. Und fragen Sie mich nicht, warum. Sie hat zwar meinem Bruder und meinem Vater gegenüber gesagt, ich würde bestraft werden, doch in Wirklichkeit hat sie mir nie etwas getan.«
»Haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Ich bin der Erstgeborene, geboren unter großen Schmerzen, wie sie mir gesagt hat. Wolfram war unerwünscht, das hat sie ihn immer und immer wieder spüren lassen. Aber er war nun mal da, und sie konnte nichts mehr dagegen tun.«
»Hatten Sie denn nie Mitleid mit Ihrem Bruder?«
»Wollen Sie eine ganz ehrliche Antwort haben?«
»Ja.«
»Nein, ich hatte kein Mitleid. Ich habe früh gelernt, Menschen zu manipulieren. Meine Mutter wollte mich zwar des Öfteren bestrafen, aber ich hatte schon als Kind ihre wunde Stelle gefunden, indem ich mir selbst immer wieder Verletzungen zugefügt habe. Ja, ich bin ein so genannter Schnipsler, aber damit habe ich meinen Willen durchgesetzt, und meine Mutter hat es nicht einmal gemerkt. Und an Schmerzen gewöhnt man sich relativ schnell. Sie hat wirklich
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