Das verlorene Kind
daß
sie in die kleine Stadt zurückkehrte, und brachte sie noch an diesem
Tage zu seiner Schwester, wo sie bis zur Hochzeit bleiben sollte.
Die Fahrt bis zur Wohnung der Schwester, die fünf Meilen weit
von der seinen entfernt lag, ging in die Dämmerung des Wintertags
hinein, die Luft war schneidend vor Kälte. Die Sonne hatte geschienen
und war am Rande der Felder wie am Horizont eines Meeres versunken, ein
schmaler, goldener Saum schwebte noch zwischen dem Himmel und der
weiten Ebene der Erde. Der zarte, graue Himmel schien verborgen, in
mattem Glanz schimmerte nur noch sein Licht, die kristallen beschneite
Erde aber leuchtete.
Christian und Martha, seine Braut, flogen in schneller Fahrt
über die Weite, die Luft trieb ihnen scharf entgegen. In Kälte
zitternd, schmiegte sie sich an ihn. Die weißen, leichtgekräuselten
Federn am Saum ihres dunklen, weichen Kopftuches aus fremdländischer
Seide streichelten seine Wangen. Seine Arme, die die Zügel hielten,
zuckten bei dieser Berührung gegen seine Brust, und zurückschnellend
stießen sie gegen das weiche Fleisch ihres Armes. Er erschrak vor der
Freude, die mit dem Strom seines Blutes ihn durchdrang, ein zweites
Leben in ihm weckte, er erschrak vor der Wollust, die seinen Körper bis
in die ausgestreckten Arme straffte, vor dem Sturm seines Herzens.
Hilflos fühlte er Tränen aufsteigen in seinen Augen, so daß er sie
nicht, wie das Glück ihn treiben wollte, mit liebendem Blick auf die
Frau neben ihm zu richten wagte. Mit einer zarten Bewegung rückte er
von ihr ab.
Auch sie hatte seine Berührung gefühlt. Röte stieg in ihr
weißes Gesicht bis zur Stirn empor, ihre leuchtend geweiteten Augen
schweiften zum Himmel, aus den geöffneten Lippen strömte leises,
kicherndes Lachen, ohne Scheu und Furcht gab sie sich den glücklichen
Schauern ihres Körpers hin.
Als sie im Hof der Schwester angekommen waren und der Wagen
hielt, sprang Christian ab. Mit vorstoßendem Griff, als hätte er einen
Feind zu packen, faßte er sie, die sich ihm entgegenneigte, um den
Leib, hob sie vom Wagen, hielt sie mit ausgestreckten Armen vor sich
hin, lange und unbeweglich. In der Luft schwebend, warf sie den Kopf
zurück, lachte in langen, glücklichen Zügen, er sah unter dem
aufspringenden Tuch an ihrem Halse ihre kleine weiße Kehle tanzen.
Sanft, mit tief befriedeter Kraft, stellte er sie auf den Boden nieder.
Klara, seine Schwester, trat ihnen entgegen. Sie glich dem
Bruder völlig an Gesicht und Gestalt, und Christians Dasein stand in
einer tiefen Bedeutung zu ihrem Leben.
Als dreizehnjähriges Mädchen hatte sie einst Mutterstelle an
ihm vertreten und trotz ihrer großen Jugend den kleinen Bruder mit
einer leidenschaftlichen, mütterlichen Inbrunst geliebt. Unermüdlich
hatte sie ihn gewartet, ihn auf ihren noch schwachen Armen
umhergetragen, bis sie schmerzten, über seinen Schlaf und über sein
Gedeihen gewacht und ganz die Spiele und die Gedanken ihrer Jugend
vergessen. Das ernste, tiefe Glück, welches ihr diese frühen,
mütterlichen Gefühle, diese sorgenden Betätigungen und die
Zärtlichkeiten des Kindes bereiteten, wurde zu der großen einzigen
Erwartung, die sie dem Leben gegenüber hegte. Sie wuchs auf zu einer
schönen bräutlichen Jungfrau, groß und kraftvoll war ihre Gestalt,
licht wie die reifen Weizenfelder ihrer Heimat umgab ihr Haar in einem
Scheitel ihr Gesicht, der Ausdruck ihrer klaren, scharfblickenden Augen
war zugleich voller Unschuld und voller Wissen von dem, was sie als ihr
höchstes weibliches Glück erkannt hatte. Sie erwählte sich den Gatten
in dem bewußten Verlangen, Kinder zu gebären, mütterliche Liebe zu
verschenken und kindliche Zärtlichkeiten zu empfangen, alle jene Wonnen
wieder zu empfinden, die der Bruder, als sie selbst noch Kind war,
schon in ihr erweckt hatte. Sie heiratete früh den Gutsbesitzer und
Baron von G., den einzigen Sohn seiner Eltern, einen Mann,
größer und stärker noch als alle anderen, jung, keusch und fromm wie
sie. Von seiner Liebe, die sie mit freudiger Hingabe aufnahm, forderte
sie, daß das tiefste, das einzige Glück für sie daraus erwachse.
Doch die Ehe blieb kinderlos. Als sie jetzt vor dem Bruder
stand, war sie eine Frau, nicht jung, nicht alt, mit traurigen und
strengen Augen, den schmalen Mund umkränzt von kleinen Falten der
Verzweiflung, und die schöne Blüte ihrer Gestalt schien erstarrt in der
Freudlosigkeit einer kinderlosen
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