Das verlorene Kind
Mutter. Sie blickte die beiden an, die
in einer aufrührerischen Wolke von Jugend und Glück vor ihr standen,
und ein Schein milder Traurigkeit und weicher Rührung verdunkelte den
allzu klaren Blick ihrer Augen. Christian nahm Marthas Hand und führte
sie so der Schwester zu.
»Du weißt, sie hat keine Mutter«, sagte er einfach.
»Aber sie wird Kinder haben«, erwiderte die Schwester und
richtete den Blick lange auf den Bruder, weckte die Erinnerung der
Liebe, des Glückes der Kindheit in der eigenen Brust auf, und plötzlich
schlang sie ihre Arme um ihn in einer seltsamen sehnsüchtigen Umarmung.
Verwirrt, neugeweckt nahm sie dann die Braut an der Hand und führte sie
ins Haus.
In einem geheimnisvollen Doppelspiel des Gefühles hielt sie in
Zukunft Martha bei sich, half ihr bei der Zurüstung zur Hochzeit, bei
der Beschaffung der kleinen Aussteuer, die die Braut aus ihrem Vermögen
sich herstellen konnte, lehrte sie ihre reichen und guten Erfahrungen
in Küche und Haus, beriet mit ihr die zarten Fragen der Zukunft, doch
alles wie in einem Traum von eigenem Glück, alles voll eigener
bräutlicher Freude und Erwartung, alles in dem Verlangen, selbst dem
Bruder, dem Bräutigam, und künftigen Gatten in einer Gestalt zu dienen
und ihn zu erfreuen. Sie umdachte ihn mit den Sorgen und Wünschen einer
wissenden Braut, die sie in Martha, der wirklichen Braut, versenkte wie
in ein lebendiges Gefäß.
Martha aber fühlte nichts von dem und lebte in unbekümmerter
Freude an ihrem Glück. Christian und sie sahen sich nur an den
Sonntagen und nie allein, und doch war zwischen ihnen alles klar, ohne
Worte waren sie sich vertraut, strömten sie einer dem andern das
tiefste Glück zu. Im März, als alles fertig bereitet, das schöne neue
Haus in Treuen gefüllt war mit dem Hausrat und den Möbeln, Stoffen und
Gardinen und allen den Zeichen einer künftigen Hausfrau, fand die
Hochzeit statt. Sie wurde fast ohne Gäste gefeiert, da die Braut eine
Fremde war und der Herr nur sein Gesinde einlud und bewirtete. Nur die
Schwester und der Pfarrer führten nach dem Gottesdienst die Braut ins
Haus. Aber es war eine vor Glück und stolzer Zuversicht leuchtende
Braut. Ihre dunklen Augen strahlten, ihr Mund lächelte, und ihr Gang
schien schwebend.
Der Hochzeitstag war ein Sonntag, es war Schneeschmelze. Mit
hartem, hellem Licht schien gierig die junge Sonne des Jahres, der
Frühlingswind stürmte und jagte die dünnen, lichtdurchtränkten Wolken
am seidig blauen Himmel, die schwarze Erde, durchrieselt von warm
zerfließendem Eis und Schnee, knisterte im Sprossen ihrer tief
verborgenen Keime. Der Abend kam früh, das Fest war kurz. Die Schwester
war davongefahren, der Mann und die Frau blieben bald allein zurück.
Die junge Frau, wie im Einklang mit der frühlingshaft erregten Natur
schwingend in lebensfreudiger Kraft, in glückseliger Erwartung, eilte
bald die Treppe empor und trat in das Schlafzimmer ein. Kerzen brannten
überall. Es war ein schöner, großer Raum in genauem Viereck, mit hell
gestrichenen Wänden, mit zarten, weißen, fein gefalteten Gardinen vor
den Fenstern. Es duftete nach Holz und Leim der neuen Möbel. Seitlich
der Fenster, von der Mitte der Wand abstehend, ragten die beiden
neugebauten Ehebetten, fest zusammengerückt, daß sie ein Ganzes
bildeten, ins Zimmer. Sie waren aus hellem Holz gefugt und mit blendend
weiß überzogenen Kissen, mit Decken und Leinen aufgebahrt. An der
Türwand standen zwei große Schränke aus gleichem Holz, eine Truhe vor
dem Fußende der Betten, und alles, Betten, Schränke und Truhe, war mit
kleinen, rosafarbenen Blüten bemalt.
Die junge Frau ließ ihre Blicke auf und nieder schweifen, sie
neigte sich und öffnete die Truhe. Sie war leer. Die junge Frau
lächelte. Sie griff in ihre dunklen, glänzenden Haare, löste sich
selbst leicht und schnell Kranz und Schleier ab und legte sie auf den
Boden der Truhe nieder. Sie öffnete das schwarze seidene Kleid, zog es
aus, faltete es gut zusammen, tat es zu Kranz und Schleier und schloß
die Truhe. Sie legte ihr einfaches graues Kleid an, das sie als Mädchen
schon getragen hatte, wenn sie im Laden bediente, band eine der neuen
Schürzen darauf, löschte die Kerze aus und ging hinab in die Küche.
Die Küche war riesengroß, durch die Hälfte der Breite und
durch die ganze Tiefe des Hauses gezogen. Durch zwei Fensterfronten
strömte das Licht ein am Tage; ein schöner großer Herd
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