Das Verlorene Labyrinth
Fenster, dessen Läden aufgeklappt waren, um die kühle Nachtluft ins Zimmer zu lassen. In dem schwachen Licht konnte Alaïs den dunklen Bartschatten auf seinem Kinn erkennen. Die Kette, die Guilhem um den Hals trug, schimmerte und glänzte, als er sich im Schlaf bewegte.
Alaïs wünschte, er würde aufwachen und ihr versichern, dass alles in Ordnung sei, dass sie keine Angst mehr haben müsse. Doch er rührte sich nicht, und ihr kam es gar nicht in den Sinn, ihn zu wecken. So furchtlos sie sonst war, in der Ehe war sie unerfahren und wusste noch nicht, wie sie ungezwungen mit ihm umgehen sollte, deshalb begnügte sie sich damit, mit den Fingern über seine glatten, gebräunten Arme zu streichen und seine Schultern zu liebkosen, breit und muskulös von den vielen Stunden, die er für das Turnier mit Schwert und Lanze übte. Alaïs spürte, wie sich das Leben unter seiner Haut bewegte, selbst im Schlaf. Und als sie daran dachte, was sie vor dem Einschlafen getan hatten, wurde sie rot, obwohl niemand da war, der sie sehen konnte.
Alaïs war überwältigt von den Gefühlen, die Guilhem in ihr weckte. Manchmal, wenn sie ihn überraschend irgendwo sah, tat ihr Herz einen Sprung, und sie bekam ganz weiche Knie, wenn er sie anlächelte. Aber was ihr nicht gefiel, war das Gefühl von Machtlosigkeit. Sie fürchtete, dass die Liebe sie schwach machte, leichtsinnig. Sie zweifelte nicht an ihrer Liebe zu Guilhem, und doch wusste sie, dass sie ein wenig von sich selbst vor ihm verbarg.
Alaïs seufzte. Sie konnte nur hoffen, dass es mit der Zeit einfacher würde.
Das Licht, das von Schwarz allmählich in Grau überging, und das gelegentliche Zwitschern eines Vogels in den Bäumen im Hof verrieten ihr, dass bald der Tag anbrach. Sie wusste, dass sie jetzt nicht mehr einschlafen würde.
Alaïs schlüpfte durch die Vorhänge nach draußen und schlich auf Zehenspitzen zur Kleidertruhe in der hinteren Ecke des Raumes. Die Fliesen unter ihren Füßen waren kalt, und die Binsenmatte kratzte an ihren Zehen. Sie öffnete die Truhe, entfernte den Lavendelbeutel von dem Kleiderhaufen und nahm ein schlichtes, dunkelgrünes Gewand heraus. Sie fröstelte ein wenig, als sie hineinschlüpfte, die Arme in die engen Ärmel schob. Sie zog den klammen Stoff über ihr Unterkleid, schloss dann den Gürtel in der Taille.
Alaïs war siebzehn und seit sechs Monaten verheiratet, aber ihr Körper hatte noch nicht die weichen Rundungen einer Frau entwickelt. Das Gewand hing unförmig an ihrer schmalen Figur herab, als müsste sie erst noch hineinwachsen. Sie hielt sich mit einer Hand am Tisch fest, schob die Füße in weiche Lederschuhe und nahm ihren roten Lieblingsmantel, der über der Stuhllehne hing. Die Säume waren kunstvoll mit blau-grünen Rechtecken und Karos bestickt, durchsetzt mit winzigen gelben Blüten, ein Muster, das Alaïs für ihre Hochzeit selbst entworfen hatte. Die Stickerei hatte sie etliche Wochen gekostet. Den ganzen November und Dezember hatte sie daran gearbeitet, die Finger schon wund und steif vor Kälte, um rechtzeitig fertig zu werden.
Alaïs schaute in ihren panier , der neben der Kleidertruhe auf dem Boden stand. Sie vergewisserte sich, ob auch alles da war, Kräutersack und Geldbeutel, die Stoffstreifen, um Pflanzen und Wurzeln zusammenzubinden, und ihr Werkzeug zum Graben und Hacken. Schließlich verschnürte sie ihren Umhang mit einem Band fest am Hals, schob ein Messer in seine Scheide an ihrem Gürtel, zog sich die Kapuze über den Kopf, um ihr langes, ungeflochtenes Haar zu verbergen, und schlich dann leise nach draußen auf den menschenleeren Gang. Die Tür fiel schwer hinter ihr zu.
Es war noch nicht Prim, deshalb rührte sich im Wohntrakt noch keine Menschenseele. Alaïs eilte den Gang entlang zu der steilen, engen Treppe, wobei ihr Umhang leise über den Steinboden raschelte. Sie stieg über einen jungen Diener hinweg, der an die Wand gelehnt vor der Tür zu dem Zimmer eingeschlafen war, das ihre Schwester Oriane mit ihrem Gatten teilte.
Auf dem Weg nach unten drangen ihr aus der Küche im Keller Stimmen entgegen. Die Diener waren schon eifrig bei der Arbeit. Alaïs hörte einen laut klatschenden Schlag, gefolgt von dem Aufschrei eines Küchenjungen, der das Pech hatte, die kräftige Hand des Kochs schon zu spüren zu bekommen, obwohl der Tag noch nicht einmal richtig angefangen hatte.
Im Erdgeschoss kam ein anderer Küchenjunge von draußen hereingewankt. Er schleppte sich mit einem großen Halbfass
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