Das Verlorene Labyrinth
nur noch schwer. Erst gestern zum Beispiel wollte ich ...«
»Das glaub ich dir gern, Jacques«, sagte sie, »aber dein Bein heilt nicht von allein. Die Wunde ist zu tief.«
Auf einmal merkte Alaïs , dass der Lärmpegel gesunken war. Sie blickte sich um und sah, dass die ganze Küche mithörte. Die kleineren Jungen hatten ihre Arbeit unterbrochen und sahen staunend zu, wie ihrem aufbrausenden Herrn und Meister die Leviten gelesen wurden. Und noch dazu von einer Frau.
Alaïs tat, als hätte sie nichts bemerkt, und senkte die Stimme. »Wie wär's, wenn ich später wiederkomme und dir die Wunde verbinde, als Gegenleistung hierfür?« Sie tätschelte das Brot. »Das wird dann unser zweites Geheimnis, oc? Ein fairer Tausch?«
Einen Moment lang fürchtete sie, sich eine zu große Vertraulichkeit herausgenommen zu haben. Doch nach kurzem Zögern grinste Jacques.
»Ben«, sagte sie. Gut. »Wenn die Sonne hoch steht, komme ich wieder und kümmere mich darum. Dins d'abörd.« Bald.
Als Alaïs die Küche verließ und wieder die Treppe hinaufging, hörte sie, wie Jacques alle anbrüllte, nicht länger Maulaffen feilzuhalten, sondern sich wieder an die Arbeit zu machen, ganz so, als sei nichts gewesen. Sie schmunzelte.
Alles war so, wie es sein sollte.
Alaïs zog die schwere Tür auf, die in den großen Hof führte, und trat hinaus in den neugeborenen Tag.
In der Mitte des ummauerten Hofes hoben sich die Blätter der mächtigen Ulme, unter der Vicomte Trencavel Recht sprach, schwarz gegen das Dunkelblau der schwindenden Nacht ab. Im Geäst wimmelte es von Lerchen und Zaunkönigen, die mit ihren hellen und klaren Stimmen die morgendliche Stille durchdrangen.
Raymond-Roger Trencavels Großvater hatte das Chateau Comtal vor über hundert Jahren erbaut, um von hier aus über seine sich immer weiter ausdehnenden Gebiete zu herrschen. Sein Territorium erstreckte sich von Albi im Norden und Narbon- ne im Süden bis nach Béziers im Osten und Carcassonne im Westen.
Das Chateau umschloss einen großen rechteckigen Hof und bezog auf der Westseite die Reste einer älteren Burg mit ein. Sie gehörte zur Verstärkung des Westteils der mächtigen Festungsmauern, die die gesamte Cité umringten und einen weiten Ausblick über den Fluss Aude und das nördliche Marschland dahinter ermöglichten.
Der donjon, wo die Consuln zusammenkamen und wichtige Dokumente Unterzeichneten, erhob sich in der Südwestecke des Hofes und war gut bewacht. Im dämmrigen Licht sah Alaïs irgendetwas vor der Mauer liegen. Sie schaute genauer hin und erkannte, dass es ein schlafender Hund war, der sich zusammengerollt hatte. Ganz in der Nähe saßen einige Jungen wie Krähen auf der Umrandung eines Gänseverschlags und versuchten das Tier zu wecken, indem sie es mit Steinchen bewarfen. In der Stille hörte sie, wie die Fersen der Jungen dumpf gegen die Holzstreben schlugen.
Das Château Comtal hatte zwei Ein- und Ausgänge. Durch das breite überwölbte Westtor, das meist geschlossen war, gelangte man unmittelbar auf die grasbewachsenen Hänge, die zu den Mauern führten. Das Osttor, schmal und eng, war zwischen zwei hohen Wachtürmen eingezwängt und führte direkt in die Straßen der Ciutat, der Cité.
Man konnte sich nur über Holzleitern und eine Reihe von Klapptüren zwischen den oberen und unteren Stockwerken der Wachtürme hin und her bewegen. Eines ihrer Lieblingsspiele als Kind war es gewesen, dort mit den Jungen aus der Küche um die Wette rauf- und runterzuklettern, ohne dass die Wachen etwas merkten. Alaïs war schnell und gewann immer.
Sie zog den Mantel fester um sich und überquerte mit schnellen Schritten den Hof. Sobald die Abendglocke geläutet hatte, die Tore für die Nacht geschlossen worden waren und die Wachen Posten bezogen hatten, durfte niemand mehr ohne die Erlaubnis ihres Vaters hinaus. Bertrand Pelletier war zwar kein Consul, aber er hatte am Hof eine einzigartige und hochgeschätzte Stellung inne. Nur wenige wagten es, ihm den Gehorsam zu verweigern.
Es war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen, dass sie sich gern in aller Frühe aus der Cité schlich, und zurzeit bestand er noch entschiedener darauf, dass sie nachts die sicheren Mauern des Chateaus nicht verließ. Alaïs vermutete, dass ihr Ehemann das genauso sah, obgleich Guilhem nie ein Wort gesagt hatte. Doch nur in der Stille und Anonymität der Morgendämmerung, frei von den Einschränkungen und Vorschriften des Hofes, hatte Alaïs wirklich das Gefühl, sie
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