Das Verlorene Labyrinth
Frieden. Hier unten, im Reich der Geschöpfe, die den Wald und das Marschland bewohnten, regierte eine tiefe und zeitlose Stille.
Und hier fühlte sie sich zu Hause.
Alaïs streifte ihre Lederschuhe ab. Das Gras war köstlich kühl zwischen den Zehen, noch nass vom Morgentau, und es kitzelte ihr die Fußsohlen. Die Freude des Augenblicks verdrängte alle Gedanken an die Cité und den Hof aus ihrem Kopf.
Sie ging mit ihrem Werkzeug ans Flussufer. Ein Büschel Brustwurz wuchs in dem flachen Wasser am Ufer. Die Stängel mit den kräftigen Riefen sahen aus wie eine Reihe Zinnsoldaten, die im schlammigen Untergrund strammstanden. Die hellgrünen Blätter — manche größer als ihre Hand - warfen schwache Schatten aufs Wasser.
Zum Reinigen des Blutes und zur Abwehr von Infektionen war nichts besser als Brustwurz. Esclarmonde, ihre Freundin und Mentorin, hatte ihr eingebläut, wie wichtig es war, die Ingredienzen für Breiumschläge, Arzneien und Heilmittel bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu sammeln. Denn, so sagte sie oft, auch wenn die Cité derzeit frei von ansteckenden Krankheiten war, konnte man nie wissen, was der kommende Tag bringen würde. Jederzeit konnten Seuchen oder Krankheiten ausbrechen. Wie alles andere, was Esclarmonde ihr beigebracht hatte, war auch das ein guter Rat gewesen.
Alaïs rollte die Ärmel hoch und schob die Messerscheide nach hinten auf den Rücken, wo sie nicht störte. Sie flocht ihr Haar zu einem Zopf, damit es ihr bei der Arbeit nicht ins Gesicht fiel, dann steckte sie die Röcke ihres Gewandes unter den Gürtel und stieg in den Fluss. Von der jähen Kälte an den Knöcheln bekam sie Gänsehaut und schnappte nach Luft.
Sie tauchte die Stoffstreifen ins Wasser und legte sie in einer Reihe am Ufer aus, dann fing sie an, mit ihrer Schaufel rundherum um die Wurzeln zu graben. Schon bald löste sich die erste Pflanze mit einem saugenden Geräusch aus dem Flussbett. Alaïs zog sie ans Ufer und zerhackte sie mit ihrem kleinen Beil in mehrere Teile. Sie umwickelte die Wurzeln mit Stoffstreifen und legte sie flach auf den Boden des panièr, dann wickelte sie die kleinen, gelbgrünen Blüten mit ihrem typisch pfeffrigen Geschmack in einen anderen Stoffstreifen und verstaute sie in ihrem Lederbeutel. Die Blätter und den Rest der Stängel warf sie weg, ging dann zurück ins Wasser und fing wieder von vorn an. Binnen kurzem waren ihre Hände voller grüner Flecke und die Arme schlammverschmiert.
Nachdem sie den ganzen Brustwurz abgeerntet hatte, sah Alaïs sich um, ob es noch irgendwas anderes gab, was sie gebrauchen konnte. Ein bisschen weiter flussaufwärts entdeckte sie einige Schwarzwurzpflanzen mit den seltsamen, unverkennbaren Blättern, die nach unten in den eigentlichen Stängel hineinwuchsen, und den ungleichmäßigen, glockenförmigen rosa und lila Blütentrauben. Schwarzwurz, oder Beinwell, wie die meisten sagten, eignete sich gut zur Behandlung von Prellungen und ließ Hautverletzungen und Knochenbrüche schneller heilen. Alaïs verschob ihr Frühstück noch ein wenig, nahm das Werkzeug und machte sich erneut an die Arbeit. Sie hörte erst auf, als der panier voll war und sie auch den letzten Stoffstreifen verbraucht hatte.
Sie trug den Korb die Uferböschung hinauf, setzte sich unter die Bäume und streckte die Beine von sich. Rücken, Schultern und Finger waren steif, doch sie war mit ihrer Arbeit zufrieden. Sie beugte sich vor und holte Jacques' Weinkrug aus dem kühlen hohlen Stamm. Der Stopfen löste sich mit einem sanften Plopp, und Alaïs fröstelte, als die weiche Flüssigkeit ihr über die Zunge in die Kehle rann. Dann packte sie das frische Brot aus und riss ein großes Stück davon ab. Es schmeckte nach einer eigentümlichen Mischung aus Mehl, Salz, Flusswasser und Gras, aber sie war hungrig und ließ es sich munden.
Der Himmel war jetzt blassblau, die Farbe von Vergissmeinnicht. Alaïs wusste, dass sie schon eine ganze Weile unterwegs war. Doch als sie das goldene Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche tanzen sah und den Hauch des Windes im Gesicht spürte, hatte sie noch keine Lust, in die geschäftigen, lärmenden Straßen von Carcassonne und in die Burg mit den vielen Menschen zurückzukehren. Sie sagte sich, dass ein Weilchen länger wohl nicht schaden konnte, streckte sich auf dem Gras aus und schloss die Augen.
Das Kreischen eines Vogels über ihr weckte sie.
Alaïs setzte sich erschrocken auf. Als sie durch das Dach aus gesprenkelten Blättern schaute,
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