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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Carcassonne.
    Alaïs machte sich auf den Weg den Berg hinab, zwischen Gestrüpp und Dornenbüschen hindurch, bis sie das flache Marschland am Südufer der Aude erreichte. Immer wieder wickelten sich die nassen Gewänder um ihre Waden, und sie strauchelte von Zeit zu Zeit. Sie merkte, dass sie unruhig war, auf der Hut, und sie ging schneller als gewöhnlich. Es hatte nichts damit zu tun, dass Jacques oder Bérenger ihr Angst gemacht hatten, redete sie sich sein. Die beiden machten sich immer Sorgen um sie. Aber heute kam sie sich allein und verletzlich vor.
    Ihre Hand glitt zu dem Messer an ihrem Gürtel, als ihr einfiel, was der Händler erzählt hatte; er wollte am anderen Ufer einen Wolf gesehen haben, erst letzte Woche. Alle hatten gedacht, er übertreibe. Um diese Jahreszeit war es wahrscheinlich nur ein Fuchs oder ein streunender Hund gewesen. Doch jetzt, wo sie allein hier draußen war, kam ihr die Geschichte glaubwürdiger vor. Der kalte Griff des Messers war beruhigend.
    Einen Moment lang spielte Alaïs mit dem Gedanken umzukehren. Sei nicht so feige. Sie ging weiter. Ein paarmal fuhr sie erschrocken herum, weil sie ganz in der Nähe ein Geräusch gehört hatte, doch es war stets bloß der Flügelschlag eines Vogels oder das Platschen eines gelben Flussaals im flachen Wasser. Während sie ihrem vertrauten Pfad folgte, ließ ihre Angespanntheit allmählich nach. Die Aude war breit und flach, und etliche kleine Nebenflüsse zweigten von ihr ab, wie Venen auf einem Handrücken. Morgendunst schwebte durchscheinend über dem Wasser. Im Winter, wenn er von den eisigen Bergbächen anschwoll, hatte der Fluss eine schnelle, starke Strömung. Aber jetzt im trockenen Sommer war das Wasser niedrig und ruhig. Die Salzmühlen, die mit dicken Stricken am Ufer vertäut waren und ein hölzernes Rückgrat in der Mitte des Flusses bildeten, bewegten sich kaum in der Strömung.
    Es war noch zu früh für die Fliegen und Mücken, die mit zunehmender Hitze wie eine schwarze Wolke über den Tümpeln schweben würden, also nahm Alaïs die Abkürzung durch die schlammigen Niederungen des Flusses. Der Pfad wurde von kleinen Häufchen aus weißen Steinen markiert, damit niemand in den trügerischen Schlick rutschte, und sie folgte ihm aufmerksam, bis sie den Rand des Waldes gleich unterhalb der Westmauern der Cité erreichte.
    Ihr Ziel war eine kleine, abgeschiedene Lichtung, wo die besten Pflanzen an den teils überschatteten seichten Stellen wuchsen. Froh, endlich im Schutz der Bäume zu sein, verlangsamte Alaïs ihren Schritt. Sie schob die Efeuranken beiseite, die über den Pfad hingen, atmete den satten, erdigen Geruch von Laub und Moos ein.
    Weit und breit war kein Mensch zu sehen, doch der Wald war erfüllt von Farben und Klängen. Das Kreischen und Zwitschern von Staren, Zaunkönigen und Finken lag in der Luft. Zweige und Blätter knackten und raschelten unter Alaïs' Füßen. Kaninchen flitzten durchs Unterholz, und ihre weißen Schwänzchen hüpften auf und nieder, wenn sie zwischen den dicht wachsenden gelben, lila und blauen Sommerblumen Deckung suchten. Hoch oben in den ausladenden Ästen der Pinien knackten Eichhörnchen die Schalen der Pinienkerne, und dünne, duftende Nadeln regneten auf den Boden.
    Alaïs war müde, als sie die Lichtung erreichte, ein kleines Eiland aus Gras mit offenem Zugang zum Fluss. Erleichtert stellte sie ihren panièr auf dem Boden ab und rieb sich die Innenseite des Ellbogens, wo sich der Henkel in die Haut gedrückt hatte. Sie legte ihren schweren Mantel ab und hängte ihn über den niedrigen Ast einer Silberweide, ehe sie sich mit ihrem Taschentuch das Gesicht abwischte. Den Wein stellte sie in einen hohlen Baum, um ihn kühl zu halten.
    Die schroffen Mauern des Chateau Comtal ragten über ihr auf. Die unverkennbare, hohe, dünne Silhouette des Tour Pinte hob sich schwarz vor dem blassen Himmel ab. Alaïs fragte sich, ob ihr Vater aufgestanden war, vielleicht saß er bereits mit Vicomte Trencavel in dessen Gemächern zusammen. Ihre Augen glitten nach links, am Wachturm vorbei, und suchten ihr eigenes Fenster. Schlief Guilhem noch? Oder war er inzwischen aufgewacht und hatte bemerkt, dass sie fort war?
    Es erstaunte sie immer, wenn sie von hier durch den grünen Baldachin aus Blättern hinaufschaute, dass die Cité so nah war. Zwei verschiedene Welten, scharf voneinander abgegrenzt. Dort in den Straßen und den Gängen des Château Comtal herrschte Lärm und Geschäftigkeit. Dort gab es keinen

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