Das Verlorene Labyrinth
war trocken und wund, aber sie musste einfach weiter. Alaïs versuchte aufzustehen, doch ihre Beine fühlten sich wie ausgehöhlt an und konnten sie nicht tragen. Sie unterdrückte die Tränen, wischte sich mit dem Rücken ihrer zitternden Hand über den Mund und versuchte es erneut, stützte sich am Stamm eines Baumes ab.
Diesmal hielt sie sich auf den Beinen. Mit bebenden Fingern zog sie den Mantel von dem Ast, schaffte es, ihre verdreckten Füße in die Schuhe zu schieben. Dann ließ sie alles andere liegen und rannte zurück durch den Wald, als wäre der Teufel selbst ihr auf den Fersen.
Die Hitze traf Alaïs , sobald sie unter den Bäumen hervor aufs offene Marschland kam. Die Sonne brannte ihr auf Wangen und Nacken. Stechfliegen und Mücken schwärmten über den stehenden Tümpeln, die den Pfad säumten, auf dem Alaïs dahinstolperte, immer weiter durch die unwirkliche Landschaft.
Die erschöpften Beine wollten ihr schon fast den Dienst versagen, und ihr Atem hechelte ihr heiß und stoßweise in Kehle und Brust. Aber sie lief weiter und weiter, getrieben von dem einzigen Gedanken, die Leiche möglichst weit hinter sich zu lassen und ihren Vater zu informieren.
Statt denselben Weg zu nehmen, den sie gekommen war und der möglicherweise verschlossen war, eilte sie instinktiv nach
Sant-Vicens und zur Porte de Rodez, die den Vorort mit Carcas- sonne verband.
Die Straßen waren belebt, und Alaïs musste sich durch die Menschen drängen. Der Lärm und das Gewimmel nahmen zu, wurden immer aufdringlicher, je näher sie der Cité kam. Alaïs versuchte ihre Ohren zu verschließen und nur daran zu denken, dass sie zum Tor musste. Sie betete, dass ihre schwachen Beine durchhielten, als sie sich durch die Menschenmenge schob.
Eine Frau klopfte ihr auf die Schulter.
»Euer Kopf«, sagte sie ruhig. Ihre Stimme war freundlich, schien aber von weit her zu kommen.
Alaïs bemerkte erst jetzt, dass ihr langes Haar lose und zerzaust herabhing, und sie zog sich rasch den Mantel über die Schultern und schlug die Kapuze über den Kopf. Ihre Hände bebten, vor Erschöpfung wie vor Entsetzen. Sie schob sich weiter nach vorne, raffte den Stoff fester um sich, um die Schlammspritzer und Flecken von Erbrochenem und grünem Flussgras an ihrem Gewand zu verbergen.
Alle drängelten und stießen und riefen durcheinander, und Alaïs fürchtete schon, ohnmächtig zu werden. Sie streckte eine Hand aus und stützte sich an der Mauer ab. Die Wachen an der Porte de Rodez winkten die meisten Einheimischen anstandslos durch, hielten jedoch Vagabunden und Bettler, Zigeuner, Sarazenen und Juden auf, fragten sie, was sie in Carcassonne wollten, durchsuchten ihre Habe ruppiger als nötig, bis kleine Münzen oder Krüge mit Bier den Besitzer wechselten. Dann wandten sie sich dem nächsten Opfer zu.
Sie ließen Alaïs durch, ohne sie richtig wahrgenommen zu haben.
Die engen Straßen der Cité waren jetzt überfüllt mit fahrenden Händlern, Kaufleuten, Vieh, Soldaten, Hufschmieden, jongleurs, Ehefrauen der Consuln mit ihren Dienern, Priestern. Um nicht erkannt zu werden, hielt Alaïs den Kopf gesenkt, als kämpfe sie gegen einen schneidenden Nordwind an.
Endlich erblickte sie die vertraute Silhouette des Tour du Major, auf den der Tour des Casernes und die Zwillingstürme des Osttores folgten, als das Chateau Comtal in Sicht kam. Erleichterung durchfuhr sie. Heiße Tränen schossen ihr in die Augen. Wütend über ihre Schwäche biss sich Alaïs so fest auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte. Sie schämte sich für ihre Verstörtheit und nahm sich vor, nicht noch mehr Schwäche zu zeigen, indem sie vor aller Augen weinte und ihren mangelnden Mut offenbarte.
Sie wollte nur noch zu ihrem Vater.
Kapitel 3
I ntendant Pelletier war in einem der Lagerräume im Keller neben der Küche und hatte gerade die wöchentliche Überprüfung der Korn- und Mehlvorräte erledigt. Er war erleichtert, nirgendwo Schimmel entdeckt zu haben.
Bertrand Pelletier stand seit über achtzehn Jahren im Dienst des Vicomte Trencavel. Es war zu Beginn des kalten neuen Jahres 1191 gewesen, als er in seine Heimatstadt Carcassonne zurückgekehrt war, um die Position des Intendant - des Haushofmeisters - für den neunjährigen Raymond-Roger, den Erben der Trencavel-Ländereien, anzutreten. Er hatte auf das Angebot gewartet und es gern angenommen. Seine schwangere französische Frau und seine zweijährige Tochter hatte er mitgebracht. Die Kälte und Nässe von Chartres
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