Das Verlorene Labyrinth
seinen Augen nicht trauen.
Die Jahre fielen von ihm ab, und er sah sich selbst, den Mann, der er einmal gewesen war, als jungen chevalier, arrogant, stolz, selbstbewusst, wie er in der capela Sant-Maria kniete. Alaïs war an seiner Seite. Eine Hochzeit zu Weihnachten brachte Glück, wie manche sagten. Blühender Weißdorn auf dem Altar und flackernde rote Kerzen, als sie einander das Eheversprechen gaben. Guilhem rannte an der Rückseite der Tribüne vorbei, versuchte verzweifelt näher heranzukommen, sich zu vergewissern, dass sie es nicht war. Das Feuer war hungrig. Der widerwärtige, überraschend süßliche Geruch von brennendem Menschenfleisch trieb zu den Zuschauern hinüber. Die Soldaten traten zurück. Selbst die Geistlichen mussten sich ein Stück von dem lodernden Flammenmeer zurückziehen.
Blut zischte, als Fußsohlen aufplatzten und Gliedmaßen ins Feuer glitten, als würden Tiere am Spieß gebraten. Die Gebete schlugen um in Schreie.
Guilhem musste würgen, aber er blieb nicht stehen. Zum Schutz gegen den Ekel erregenden, beißenden Qualm hielt er sich den Mantel vor Mund und Nase und versuchte näher an die Palisade heranzukommen, doch die wirbelnden Rauchwolken nahmen ihm die Sicht.
Plötzlich erklang eine Stimme aus dem Feuer, klar und deutlich.
»Oriane!«
War das Alaïs ' Stimme? Guilhem war sich nicht sicher. Mit den Händen schützend vor dem Gesicht, taumelte er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
»Oriane!«
Diesmal antwortete jemand laut von der Tribüne her. Guilhem fuhr herum, und durch eine Lücke im Rauch sah er Orianes wutverzerrtes Gesicht. Sie war aufgesprungen und gestikulierte wild Richtung Wachen.
Guilhem wollte schon Alaïs ' Namen rufen, aber er durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Er war gekommen, um sie zu retten. Er war gekommen, weil er ihr helfen wollte, Oriane zu entkommen, so wie er ihr schon einmal geholfen hatte.
Jene drei Monate, die er nach der Flucht vor den Inquisitoren in Toulouse mit Alaïs verbracht hatte, waren die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen. Alaïs hatte nicht länger bleiben wollen, und er hatte sie nicht umstimmen, ihr nicht einmal entlocken können, warum sie wegwollte. Aber sie hatte gesagt - und Guilhem hatte ihr geglaubt -, dass sie, wenn diese schlimme Zeit vorüber wäre, wieder Zusammenkommen würden.
»Mon cor«, flüsterte er beinahe schluchzend.
Dieses Versprechen und die Erinnerung an die gemeinsamen Tage hatten ihn in den zehn langen, leeren Jahren aufrecht gehalten. Wie ein Licht in der Dunkelheit.
Guilhem spürte, wie sein Herz brach. » Alaïs !«
An dem roten Mantel brannte ein kleines weißes Lederpäckchen, ungefähr so groß wie ein Buch. Die Hände, die es gehalten hatten, gab es nicht mehr, nur noch Knochen und spritzendes Fett und verkohltes Fleisch.
Er wusste, ihm war nichts mehr geblieben.
Für Guilhem wurde die Welt plötzlich ganz still. Es gab keine Geräusche mehr, keinen Schmerz, nur noch eine helle weiße
Weite. Der Berg war verschwunden, der Himmel und der Rauch und die Schreie waren verschwunden. Alle Hoffnung war verschwunden.
Seine Beine trugen ihn nicht länger. Guilhem sank auf die Knie, und die Verzweiflung übermannte ihn.
Kapitel 73
Sabarthès -Berge
Freitag, 8. Juli 2005
D er Gestank brachte ihn wieder zu Bewusstsein. Eine Mischung aus Ammoniak, Ziegenmist, ungewaschenem Bettzeug und kaltem, gegartem Fleisch. Er blieb ihm in der Kehle stecken und brannte ihm in der Nase, als würde man ihm ein Fläschchen Riechsalz zu dicht vors Gesicht halten.
Will lag auf einer unbequemen Pritsche, eigentlich eher einer Bank, die an die Wand der Hütte geschraubt war. Er setzte sich vorsichtig auf und lehnte sich gegen die Steinwand. Die rauen Kanten drückten ihm gegen die Arme, die ihm noch immer auf den Rücken gebunden waren.
Er fühlte sich, als hätte er vier Runden im Boxring überstanden. Während der Fahrt war er im Kofferraum kräftig durchgerüttelt worden, und sein Körper war mit blauen Flecken übersät. An der Stelle, wo Fran c ois-Baptiste ihn mit der Pistole getroffen hatte, pochte ihm die Schläfe. Er spürte den Bluterguss unter der Haut, hart und böse, und das Blut um die Platzwunde herum.
Er wusste nicht, wie spät oder welcher Tag es war. Noch immer Freitag?
Sie hatten Chartres sehr früh am Morgen verlassen, so gegen fünf Uhr. Als sie ihn aus dem Auto geholt hatten, war es Nachmittag gewesen, heiß und die Sonne noch hell. Er drehte den Hals,
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