Das Verlorene Labyrinth
war.
Die vergangenen zwei Wochen waren friedliche Tage gewesen. Für viele die letzten Tage. Sie hatten Ostern gefeiert. Die parfaits und einige parfaites hatten gefastet. Obwohl allen, die ihrem Glauben abschwören würden, die Begnadigung versprochen worden war, hatte sich fast die halbe Bevölkerung der Zitadelle, unter ihnen auch Rixende, entschlossen, das consolament zu empfangen. Sie wollten lieber als Bons Chrétiens sterben als besiegt unter der französischen Krone leben. Wer dazu verdammt war, für seinen Glauben zu sterben, hatte seine Habseligkeiten jenen vermacht, die dazu verdammt waren, ohne ihre Lieben weiterzuleben.
Bertrande hatte geholfen, Geschenke zu verteilen, Wachs, Pfeffer, Salz, Tuch, Schuhe, einen Geldbeutel, Beinkleider, sogar einen Filzhut.
Pierre-Roger de Mirepoix war mit einer Decke voller Münzen beschenkt worden. Andere hatten ihm Getreide und Kleidung gegeben, die er an seine Männer verteilen sollte. Marquesia de Lanatar hatte alles, was sie besaß, ihrer Enkelin Phillipa geschenkt, Pierre-Rogers Gemahlin.
Bertrande blickte in die Runde der stillen Gesichter und sprach ein lautloses Gebet für ihre Mutter. Alaïs hatte Rixendes Kleidung sorgfältig ausgewählt. Das dunkelgrüne Gewand und ein roter Mantel, der an den Rändern und am Saum mit einem komplizierten Muster aus blau-grünen Rechtecken und Karos und gelben Blüten bestickt war. Sie hatte Bertrande erklärt, dass sie genauso einen Mantel bei ihrer Hochzeit in der capèla Sant- Maria im Château Comtal getragen hatte. Alaïs war sicher, dass Oriane sich daran erinnern würde, trotz der vielen Jahre, die vergangen waren.
Vorsichtshalber hatte Alaïs außerdem noch einen Beutel aus Schafsleder gefertigt, der auf dem roten Mantel getragen wurde, eine Nachbildung des chemise, in dem jedes Buch der Labyrinth- Trilogie aufbewahrt wurde.
Bertrande hatte geholfen, ihn mit Stoff und Pergamentbögen zu füllen, sodass er zumindest auf einige Entfernung täuschend echt aussah. Sie verstand nicht ganz, wozu das alles dienen sollte, nur dass es wichtig war. Und sie war froh gewesen, dass sie dabei helfen durfte.
Bertrande streckte den Arm aus und nahm Sajhës Hand.
Die Oberhäupter der Katharerkirche, Bischof Bertrand Marty und Raymond Aiguilher, beide inzwischen alte Männer, standen ruhig da in ihren dunkelblauen Roben. Jahrelang hatten sie ihr geistliches Amt von Montségur aus ausgeübt, waren immer wieder von der Zitadelle aufgebrochen und hatten den credentes in den einsamen Bergdörfern und auf dem flachen Land das Wort gepredigt und ihnen Trost gebracht. Nun waren sie bereit, ihr Volk ins Feuer zu führen.
»Mamä wird nichts zustoßen«, flüsterte Bertrande, um Sajhë Mut zu machen, aber ebenso auch sich selbst. Sie spürte Rixendes Hand auf ihrer Schulter.
»Ich wünschte, du würdest nicht ...«
»Ich habe mich entschieden«, sagte Rixende rasch. »Ich bin entschlossen, in meinem Glauben zu sterben.«
»Was, wenn Mama ergriffen wird?«, flüsterte Bertrande. Rixende streichelte ihr Haar. »Wir können nichts tun außer beten.«
Bertrande merkte, dass ihr Tränen in die Augen schossen, als die Soldaten sie erreichten. Rixende hielt die Handgelenke hin, um sich fesseln zu lassen. Der junge Mann schüttelte den Kopf. Sie hatten nicht erwartet, dass sich so viele für den Tod entscheiden würden, und deshalb waren nicht genug Ketten für alle da.
Bertrande und Sajhë sahen schweigend zu, wie Rixende und die anderen durch das große Tor gingen und zum letzten Mal den steilen, gewundenen Bergpfad hinabstiegen. Zwischen den gedämpften Braun- und Grüntönen hob sich das Rot von Alaïs ' Mantel leuchtend gegen den grauen Himmel ab.
Angeführt von Bischof Marty, begannen die Gefangenen zu singen. Montsegur war gefallen, aber sie waren nicht besiegt worden.
Bertrande wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, stark zu sein. Sie wollte ihr Möglichstes tun, um Wort zu halten.
Unten auf den Wiesen der tieferen Hänge waren Tribünen für die Zuschauer errichtet worden. Sie waren bis auf den letzten Platz besetzt. Die neue Oberschicht des Midi, französische Adelige, Kollaborateure, katholische Legaten und Inquisitoren, war der Einladung des Seneschalls von Carcassonne, Hugues des Ar- cis, gefolgt. Alle waren gekommen, um mitzuerleben, wie nach über dreißig Jahren Bürgerkrieg der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.
Guilhem hüllte sich tiefer in seinen Umhang, um
Weitere Kostenlose Bücher