Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Reihe der Puppen aus Wachs und aus Fleisch und Blut hinauf und hinunter, blieb vor jeder einzelnen lange stehen. Er setzte sich und beobachtete uns aus einiger Entfernung. Er nahm seine Taschenuhr heraus und wartete. Nach einer halben Stunde hatten sich drei Puppen aus Fleisch und Blut verraten. Sie hatten sich bewegt und wurden folglich entlassen. Jetzt waren wir nur noch sieben. Eine Dreiviertelstunde später wurde eine vierte Puppe aus Fleisch und Blut ohnmächtig. Jetzt waren wir nur noch sechs. Nach einer Stunde nahm der fette Mann in dem cremefarbenen Dreiteiler eine Plastikdose aus einer seiner Taschen. Sie war voller Fliegen. Er öffnete diese Dose, die Fliegen flogen um uns herum, landeten auf unseren Gesichtern, wanderten in unsere Nasen. Doch wir rührten uns nicht.
    Nach anderthalb Stunden gab sich wieder jemand zu erkennen. Aber das war nicht ich. Eine der Wachsfiguren war in Wirklichkeit aus Fleisch und Blut gewesen. Der fette Mann sagte (zu der Wachspuppe, die sich als Fleischpuppe zu erkennen gegeben hatte), Ich fürchte, wir müssen Sie entlassen, danke für Ihre bisherige gute Arbeit. Die Fleischpuppe sagte, Aber ich arbeite doch bereits seit drei Jahren hier, wie soll ich denn jetzt meine Familie ernähren? Der fette Mann sagte, Besorgen Sie sich eine Bewegungsarbeit.
    Jetzt waren wir nur noch fünf.
    Nach fast zwei Stunden klatschte der Mann in dem cremefarbenen Anzug in die Hände und sagte, Sehr gut, das genügt, bitte treten Sie vor. Aber ich rührte mich nicht. Wieder so ein Trick. Nach zweieinhalb Stunden betrat ein Angestellter des Wachsfigurenmuseums mit einem Tablett den Raum, auf dem sich etwas zu essen befand. Gebratener Fasan, Bratkartoffeln, Brokkoli, eine Flasche roten Bordeaux, Zitronenkuchen, Stilton und Portwein. Der Angestellte ging wieder. Der Mann in dem cremefarbenen Anzug verspeiste nach und nach sein Mittagessen. Er machte Pausen zwischen den Gängen und beobachtete uns, während er aß und trank. Nach dreieinviertel Stunden schlief der fette Mann ein oder gab vor zu schlafen, bis zum heutigen Tag bin ich nicht sicher, ob dies nun ein weiterer Trick war oder nicht.
    Erst nach fast vier Stunden schüttelte der fette Mann seinen Schlaf ab oder gab vor, seinen Schlaf abzuschütteln und verließ den Raum, wobei er die Tür hinter sich schloss. Kurz darauf kam ein anderer Mann herein, er sagte, der Vorstellungstermin sei nun offiziell vorüber und Francis Orme werde vom Wachsfigurenmuseum eingestellt. Aber ich rührte mich nicht. Dann sagte der Mann, Ich danke Ihnen allen und alle Wachsfiguren traten vor und verließen den Raum. Ohne fremde Hilfe. Es hatte überhaupt keine Wachsfiguren gegeben. Der Mann trat zu mir. Er sagte, Vielen Dank, Francis, das genügt jetzt, geben Sie nicht so an.
    Ich war mit Abstand die jüngste Fleischpuppe, die jemals vom Wachsfigurenmuseum eingestellt worden war. Die Arbeit war erheblich komplizierter, als es dem Nichteingeweihten erscheinen mag und wir, die wir mit unserer Arbeit der Reglosigkeit beschäftigt waren, wir waren eine sehr stolze Gruppe Soldaten. Wir hielten uns selbst für halb Mensch und halb Ding. Um einen solchen Grad an Professionalität zu erreichen, war es wichtig, nicht nur äußere Reglosigkeit zu erlangen, sondern ebenfalls innere Reglosigkeit. Innere Reglosigkeit war eine Kunst, die ich von meinem Vater lernte.
    Vater ist keine berühmte Gestalt der Gegenwart, wird keine der Zukunft sein und seine Vergangenheit war so ereignislos wie ein leeres Tagebuch. Vater wird niemals eine berühmte Gestalt sein. Vater verstand sich in seiner eigenen Existenz als Parenthese. Überzeugt, die Quintessenz der Unscheinbarkeit zu sein, beschloß er, seine Tage außerhalb des Lichts zu leben, in Schattierungen der Dunkelheit, welche Menschen davon abbringen könnten, ihn mit einem Stück Leben zu verwechseln. Er fühlte sich wohl dabei, sich mit allem anzufreunden, was niemals Widerworte gab, mit allem, was sich niemals bewegte, mit allem, was andere nicht beachteten oder wahrnahmen.
    Vater hielt seinen jungen Körper reglos, um alles um sich herum zu beobachten. Seinen Körper still zu halten half ihm dabei, mit Geduld und Bedacht zu sehen, was um ihn herum war. Vater war ein Freund von allmählich wechselnden Lichtintensitäten, von der Odyssee einer Schnecke, vom Schneefall des Staubs. Eines Tages allerdings wurde Vater im Licht erwischt. Eines Tages zog Mutter die Gardinen auf und führte ihn in die Kirche. Eines Tages wirkte Vater zutiefst

Weitere Kostenlose Bücher