Das verlorene Observatorium
versuchte, mit einem untergehenden Handwerk Geld zu verdienen. An diesem Tag machte ich früh Feierabend.
Was meine ersten visuellen Eindrücke von dem neuen Bewohner betraf, mußte ich mich auf den Bericht von Mr. Peter Bugg verlassen. Mr. Bugg lebte in Wohnung 10, die, als unser Haus noch auf dem Land lag, Teil der Kinderzimmer gewesen war, genaugenommen ein Schlafraum und ein Klassenzimmer. Peter Bugg, Schulmeister im Ruhestand, Privatlehrer im Ruhestand, Ruheständler, lebte, sofern man es leben nennen konnte, von einer kleinen Pension, die er vom Vater eines seiner ehemaligen Schüler bezog. Peter Bugg, kahl wie ein Ei. Peter Bugg, gekleidet in seinen schwarzen Anzug mit ausgestellten Hosenbeinen. Erst der zweite Anzug, den er jemals besaß und ganz gewiss sein letzter. Dieser Anzug war ein Geschenk von seinen ehemaligen Schülern. Aber nicht aus Dankbarkeit. Sondern aus Verpflichtung. Die Schüler hatten den ersten Anzug ruiniert, den er besaß. Sie hatten die weiße Sitzfläche seines Stuhls angemalt. Weiß. Peter Buggs erster Anzug, der ebenfalls schwarz gewesen war, hatte sich mit Peter Bugg darin auf dem Stuhl im Klassenzimmer niedergelassen und war im Bereich und der näheren Umgebung seines mageren Hinterns weiß geworden. Ein schwarzweißer Anzug. Die Schüler waren verpflichtet, ihm einen neuen zu kaufen. Sie vergeudeten ihr gesamtes Taschengeld für Peter Buggs mageren Hintern, was seiner Beliebtheit natürlich nicht zugute kam. Aber dies kümmerte ihn wenig, zumindest damals nicht, denn damals schienen die ständig wechselnden Schülerströme sich noch unendlich vor ihm zu erstrecken, ein ganzer Horizont voller erzieherischer Möglichkeiten. Er war ein grausamer Lehrer. Aber auf seine Art war er fair. Seine Grausamkeit bekamen die Gescheiten wie die Idioten zu spüren. Er gestand sich keine Lieblinge zu. Er war gefürchtet, und er roch diese Angst, atmete diese Angst ein mit einer Sommeliersnase. Dann fand Peter Bugg einen Liebling und etwas lief schief. Etwas lief furchtbar schief. Peter Bugg beschloß, seine geliebte Schule zu verlassen und Privatlehrer zu werden. Was er dann auch zweiundzwanzig Jahre lang war.
Eines Tages bemerkte dieser strenge Mann, daß er weinte. Ohne erkennbaren Grund. Er vermutete, eine Bindehautentzündung zu haben. Doch welches Medikament er auch immer sich in die Augen träufelte, Peter Bugg weinte weiter. Die Arzte hatten keine Erklärung für sein Weinen. Peter Bugg weinte weiter. Er war bekannt dafür Zu sagen, manche Menschen weinen eben. Er war bekannt dafür zu sagen, sie weinen ohne offensichtlichen Grund. Sie sind nicht traurig, sagte er, sie weinen einfach, ohne daß die Tränen je versiegen. So etwas passiert manchen Menschen, sagte er, es passiert einfach und es gibt nichts, was sie dagegen tun könnten. Ein oder zwei Jahre später bemerkte Peter Bugg, daß er schwitzte. Fast ständig. Am ganzen Körper, ob er sich nun bewegte oder nicht. Er nannte dieses Schwitzen Hyperhydrosis. Doch gleichgültig, welche Medikamente er nahm, ob nun oral verabreicht oder zur äußerlichen Anwendung, Peter Bugg schwitzte weiter. Die Arzte hatten keine Erklärung für das Schwitzen. Er war bekannt dafür zu sagen, manche Menschen schwitzen eben. Er war bekannt dafür zu sagen, sie schwitzen ohne offensichtlichen Grund. Sie sind weder in schlechter körperlicher Form noch übergewichtig, sagte er, sie schwitzen einfach, ohne daß der Schweiß je versiegt. So etwas passiert manchen Menschen, sagte er, es passiert einfach, und es gibt nichts, was sie dagegen tun könnten. Peter Bugg deckte sich ein mit schweißhemmenden Mitteln, Fußdeodoranten, Körperlotionen und Rasierwasser. Er roch nach hundert verschiedenen Düften. Peter Bugg bemerkte, daß er am stärksten in jenen Körperregionen schwitzte, wo Haare wuchsen. Also rasierte er sich. Er rasierte sich den Schädel. Er rasierte sich die Augenbrauen. Er rasierte sich die Achseln. Er rasierte sich die Beine und seine Brust. Er rasierte sich zwischen den Beinen. Er ließ nicht ein einziges Haar nachwachsen.
Peter Bugg wußte, was geschah, aber er war ein zurückhaltender Mensch. Ein Mensch, dem es schwerfiel, über sich selbst zu sprechen, dem es schwerfiel, überhaupt mit jemandem zu sprechen. Ein Mensch, den ein verbaler Kontakt nervös, ein körperlicher Kontakt hysterisch machte. Ein Mensch, der von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (ich war eine davon) nicht die Gesellschaft anderer suchte. Er wußte, was mit ihm geschah,
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