Das Vermächtnis
Vergnügen. Manchmal nahm ich auch einen Umweg über die Spundlöcher am Osthang des Gletschers und ließ mich von den warmen Aufwinden tragen. Ich erfreute mich an den wunderschönen kleinen Blumen, die sich so tapfer am Rand der Eisfelder behaupteten. Ihre Blüten waren fröhliche Farbtupfer in der frostig weißen Umgebung. Die Sommertage waren lang und hell. Ich wanderte in meinen Visionen durch Wälder aus Lichtbahnen. Ich sah alle möglichen Lebewesen und Freunde. Bilder von vergangenen und zukünftigen Ereignissen zogen an mir vorüber. Ich stellte jedoch fest, dass ich die Visionen nicht durch Willenskraft hervorrufen konnte. Sie kamen und gingen, wie es ihnen beliebte. Ich hatte allerdings den Eindruck, dass sie immer dann kamen, wenn ich besonders empfänglich für sie war. Doch die Bilder blieben flüchtig und verschwommen. Die Visionen, die ich beim Anblick des Waldbrandes gehabt hatte, waren viel deutlicher und lebendiger gewesen.
Eines Tages erschien mir ein ungewöhnliches Bild: ein Büschel Flechten, das zu qualmen schien. Ich erspähte einen rötlichen Funken in den Flechten und pustete instinktiv darauf. Dann wurde mir klar, wie albern ich mich benahm. Schließlich war es nur eine Vision. Doch manche Visionen lassen sich in die Tat umsetzen. Ich flog los und sammelte Flechten. Diese legte ich auf eine Stelle mit besonders klarem Eis. Dann ordnete ich darum herum kleinere Eisstücke an, als wollte ich ein Eisnest bauen. Ich achtete darauf, dass die Eisstücke das Sonnenlicht einfingen und die gebündelten Strahlen auf das Flechtenhäufchen gerichtet waren.
Es dauerte nicht lange, bis sich die silbergrauen Flechten schwarz färbten. Ein beißender Geruch stieg empor, bei dem ich sofort an den Waldbrand auf der Insel denken musste.
Ein Funke leuchtete auf. Mein Magen machte vor Freude einen Hüpfer. Der Funke verwandelte sich in eine Flamme. Ich hatte zum allerersten Mal selbst Feuer gemacht! Von der Hitze schmolzen die Eisstücke. Ich stieß sie rasch mit dem Schnabel weg, damit das Wasser die Flammen nicht löschte.
Bald hatte ich Übung darin, „Flechtenfeuer“ zu entfachen. Als ich erwachsen wurde, überschritt ich in meinen Visionen sogar die Grenzen der Zeit. Dann flog ich in eine andere Welt, in der die Mondphasen und der Sonnenstand keine Rolle spielten.
War das Zauberei, was ich erlebte? Allerdings hatte ich sehr wohl meinen Verstand benutzt, als ich mein erstes Flechtenfeuer entzündet hatte. Ich besaß zwar die Gabe der Vision, aber ohne Vernunft und Magengespür wäre ich niemals so weit gekommen. Nein, was ich entdeckt hatte, war keine Zauberei, es waren grundlegende Naturgesetze. Ich war froh über diese Erkenntnis, denn es behagte mir gar nicht, dass N’yrthgar ein so gesetzloses Land war. Ich stellte mir Gesetze ähnlich wie Bäume vor. Ohne Gesetze fegte der stürmische Wind ungehindert über die Eisfelder und keine Eule konnte einen geraden Kurs halten.
Du machst dir keinen Begriff, lieber Eulenleser, was für eine Bedrohung Zauberei zu meiner Zeit darstellte. Es gab damals nur ganz wenige Vogelarten auf der Welt. In der Vorzeit, lange, bevor ich selbst oder sogar bevor meine Ururgroßeltern schlüpften, gab es überhaupt nur drei Vogelarten: eine Singvogelart, eine Seevogelart und eine Raubvogelart. Erst nach vielen Jahrtausenden entstanden daraus verschiedene Unterarten: Rotkehlchen, Nachtigallen, Möwen, Adler und so weiter und so fort. So unwahrscheinlich es klingen mag: Es gab sogar einen Vogel, der halb Krähe, halb Eule war! Erst nach und nach entwickelten sich dann zwei getrennte Arten aus diesen „Kreulen“. Einige dieser Mischwesen blieben jedoch erhalten. Man nannte sie „Hägsdämonen“. Sie hatten unvollständig ausgebildete Muskelmägen, erzählte man sich. Ihr Gehirn und ihr Verstand waren nicht sehr ausgeprägt, dafür verfügten sie über beträchtliche magische Fähigkeiten. Ich selbst besaß ebenfalls besondere Kräfte. Doch ich hatte noch viel zu lernen.
Es war mein Wissensdurst, der mich in die Hinterlande zog. Ich wollte über den Vulkankratern kreisen und in den Magen der heißesten Glut blicken. Für mich war Feuer nämlich ein Lebewesen wie du und ich, lieber Eulenleser.
Bei meinen Ausflügen in die Hinterlande traf ich auch auf die Urzeitwölfe. Meine erste Begegnung mit ihrem Anführer Fengo steht mir noch so lebhaft vor Augen, als hätte sie erst gestern stattgefunden. Fengo hatte seinen Clan vor einigen Jahren in die Hinterlande geführt,
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