Das Vermächtnis
Kampfkrallen, Eisschwerter und Eisdolche nichts. Wissen dagegen ist die mächtigste aller Waffen. Deshalb müsst ihr euch mit den Anfängen unseres Volkes beschäftigen! Lest die überlieferten Geschichten, die noch älter sind als die Legenden von Ga’Hoole. Lernt von unserem großen Vorfahr, dem späteren König Hoole, dessen kostbare Glut du, Coryn, aus dem Vulkan geborgen hast. Lest und lernt!“
„Machen wir – versprochen. Wir fliegen sofort in die Bibliothek“, sagte Coryn.
„Nein, nein.“ Ezylryb schüttelte erstaunlich energisch den Kopf. „Die Geschichten, die ich meine, sind nicht in der Bibliothek zu finden, sondern nur hier, in meiner Höhle.“ Er nickte Soren zu. „Du weißt, wo.“
In Ezylrybs Stube gab es eine Geheimtür, die Soren und Gylfie vor Jahren entdeckt hatten. In der Kammer hinter der Tür hatte Ezylryb damals seine alten Kampfkrallen aufbewahrt. Als er Soren zu seinem Ziehsohn ernannte, hatte er ihm die Waffen geschenkt. Außerdem war in der Kammer Ezylrybs Privatbibliothek untergebracht. Sie enthielt unter anderem uralte Schriftrollen aus seiner Heimat, den Nordlanden.
„Lest und lernt!“, wiederholte Ezylryb nachdrücklich. „Studiert die Entstehungsgeschichte der Wächter … und macht euch klar, wer und was uns bedroht. Die Zukunft gehört euch, wenn …“
Der Satz blieb unvollendet. Ezylrybs goldbraune Augen verdrehten sich. Er tat einen letzten Atemzug, dann lag er still. Ein Lufthauch strich durch die Höhle, als seine Seele den Körper verließ. Der alte Ryb war tot.
Erst drei Tage nach der Abschiedszeremonie öffnete Oktavia Coryn und Soren die Tür zur Geheimkammer. Auf einem Wandbord lagen drei uralte Bücher. Soren nahm das oberste herunter. Die goldene Schrift auf dem Mäuseleder war verblichen. DIE LEGENDEN VON GA ’ HOOLE entzifferten sie mühsam, und darunter: DER ERSTE GLUTSAMMLER .
Soren schlug das Buch auf und schaute seinen Neffen an. Sie würden das Buch zusammen lesen und sich jedes Wort einprägen. Und Soren würde von nun an der Ryb des jungen Königs sein, sein Lehrer und Mentor.
Gränk ist mein Name. Nun, da ich diese Zeilen verfasse, bin ich schon alt. Doch ich will versuchen, meine Geschichte niederzuschreiben, ehe ich das Zeitliche segne. Seit meiner Jugend hat sich vieles verändert. Ich kam in einer Epoche zur Welt, in der beständig Streit und Krieg herrschten. Eulenvölker und Clans waren miteinander verfeindet. Böse Geister trieben ihr Unwesen. Aber vor allem war es eine Epoche, in der die Hägsdämonen die Welt tyrannisierten. Die Tage des alten Königs H’rathmore, des Hohen Königs aller N’yrthgar, waren eine finstere Epoche. Aufrührerische Clanführer und kleinere Fürsten kämpften gegen den obersten Herrscher und gegeneinander. Dabei zerbrachen ihre Fürstentümer und Reviere, so wie ein Baum bei einem Blitzschlag in Stücke zersplittert.
Die verhängnisvolle Kriegslust vererbte sich von einer Generation auf die nächste. Als H’rathmore starb, wurde sein noch junger Sohn H’rath Hoher König. Ich selbst bin von adliger Herkunft und war ein enger Freund von König H’rath und seiner Gattin Königin Siv.
Immer tiefer wurde ich in das Geflecht aus Intrigen und Aufständen verwickelt. Das gefiel mir gar nicht. Anders als der junge König war ich selbst nicht sonderlich kriegerisch veranlagt. Ich konnte mit Worten besser umgehen als mit Waffen. Mir lag es eher, einen kriegerischen Plan zu entwerfen, als das Heer in die Schlacht zu führen. Trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, dem jungen König zur Seite zu stehen. Ich wurde sein Berater und er schickte mich oft als Unterhändler zu aufständischen Clans oder unzufriedenen Fürsten. Ich unterstützte ihn nach Kräften dabei, sein zersplittertes Reich wieder zu einen und die boshaften Hägsdämonen zu vertreiben.
Doch wie auch du vielleicht schon erfahren hast, werter Eulenleser, ebbt auch das schlimmste Chaos dann und wann ab, und jeder Krieg hat seine Atempausen und Waffenstillstände. Bei solchen Gelegenheiten verließ ich H’raths Hof und widmete mich meinen eigenen Angelegenheiten. Diese hatten nichts, aber auch gar nichts mit Kriegführen zu tun. H’rath, Siv und ich waren schon Freunde, ehe H’rath und Siv ein Paar wurden. Doch ich habe immer großen Wert auf meine Unabhängigkeit gelegt. Mir war bereits früh klar, dass ich nicht dazu geschaffen bin, mit einer Gefährtin zusammenzuleben. Zwar gab es einmal ein Eulenweibchen, für das mein Magen in Wallung
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