Das Vermächtnis der Feuerelfen
wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen in der Schankstube zu. Dort hatte sich zwischen den drei Männern am Würfeltisch eine handfeste Auseinandersetzung entwickelt, die der Wirt zu schlichten versuchte. Finearfin beobachtete, wie er erst auf den einen und dann auf die anderen beiden einredete und schließlich kurzerhand die Würfel einkassierte, um weiteren Zänkereien zuvorzukommen. Das wiederum ließen sich die angetrunkenen Männer nicht gefallen. Als hätte es nie einen Streit gegeben, schlossen sie sich zusammen und bauten sich drohend vor dem Wirt auf.
»Noch Wein?« Die raue Stimme der Bedienung riss Finearfin aus ihren Gedanken. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf.
»Recht so.« Die Frau schenkte ihr ein mütterliches Lächeln, das die Falten um ihre Augen vertiefte. »Es muss ja nicht immer so enden wie bei denen da.« Sie seufzte. »Früher war alles leichter. Da hätte er sie einfach vor die Tür gesetzt.«
Finearfin konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie der kleine, buckelige Wirt einen kräftigen Seemann hinauswarf, aber sie wollte nicht unhöflich sein und antwortete, obwohl ihr immer noch nicht nach Reden zumute war. »Und jetzt?«
»Jetzt wäre es ihr Todesurteil.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Das bringt er nicht übers Herz. Wenn er nicht achtgibt, werden sie ihm irgendwann die Schankstube kurz und klein schlagen.« Sie seufzte erneut. »Verdammter Wein, verfluchte Nachtmahre.«
»Ist es so schlimm?« Die Frage war überflüssig. Finearfin wusste sehr wohl, dass es die immer grausameren Angriffe der Anderweltgeschöpfe gewesen waren, die Elfen und Menschen nach dem langen und blutigen Krieg zum Schulterschluss gezwungen hatten.
»Schlimmer!« Die Frau stellte den Krug mit dem Wein ab, stützte die Hände auf den Tisch und sah Finearfin aus ihren hellgrauen
Augen durchdringend an. »Wo kommst du her, dass du das fragen musst? Ich hörte, die Nachtmahre, Wechselwesen und Dämonen treiben längst auch im Zweistromland ihr Unwesen. Oder wie ist es dort?«
»Kalt.« Finearfin sagte das so bitter, als wäre die Kälte schlimmer als alle Bewohner der Anderwelt zusammen.
»Kalt ist es hier auch.« Die Frau schien zu schaudern. »Es hätte längst Frühling sein müssen, aber der verdammte Winter will einfach nicht weichen. Als ich noch ein kleines Mädchen war, gab es hier nie Schnee und Eis. Die Winter waren nass und stürmisch, aber nie frostig. Seit der Krieg vor fünfzehn Wintern begonnen hat, scheint sich auch das Wetter gegen uns verschworen zu haben. Jeder Winter ist härter als der vorangegangene und jeder dauert länger als sein Vorgänger. Wenn das so weitergeht, wird es in Arvid bald nur noch Winter geben.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber es ist doch sicher nicht die Kälte, die dich so weit in den Süden führt.«
»Nein.«
»Was ist es dann?«
»Ich bin auf der Suche.« Finearfin spürte, dass sie im Begriff war, sich auf ein Gespräch einzulassen, das sie eigentlich nicht hatte führen wollen. Andererseits hatte sie gerade nichts Besseres zu tun, und sie wusste, dass sie keine Antworten bekommen würde, wenn sie sich niemandem anvertraute. In der Schankstube war Ruhe eingekehrt. Irgendwie hatte es der Wirt geschafft, die Streithähne zu besänftigen. Die drei Männer saßen wieder einträchtig am Tisch, würfelten und tranken.
»Und wonach suchst du, wenn ich fragen darf?«, wollte die Bedienung wissen.
»Nach jemandem, der sich erinnert.«
»Vielleicht kann ich dir helfen?«, bot die Frau an. »Ich arbeite schon viele Winter hier in der Taverne. Da bekommt man so einiges mit.«
Die Männer am Kartentisch verlangten grölend nach mehr Wein. Sie nahm den Krug zur Hand, beugte sich zu Finearfin herunter und flüsterte: »Ich komme gleich wieder. Dann reden wir.«
Daraus wurde nichts. Die Gäste schienen alle gleichzeitig Durst zu bekommen, und die Bedienung hatte alle Hände voll zu tun, die Wünsche zu erfüllen. Aber sie hatte Finearfin nicht vergessen. Als der letzte Gast seinen Wein erhalten hatte, kam sie zu ihr an den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und sagte in einem Ton, als wäre sie nie fort gewesen: »Also? Ich höre. Was willst du wissen?«
DER KOPFGELDJÄGER
D urin bemerkte den Nachtmahr nur, weil Saphrax ihn warnte.
Das tanzende Licht der Pechfackeln spiegelte sich kalt in den Augen des großen Mannes, der wie ein einsamer Wolf durch Arvids verlassene Straßen streifte. Er wusste um die Gefahren der Nacht und war auf der Hut.
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