Das Vermächtnis der Feuerelfen
das Kind zu nehmen aber war mehr, als selbst er ertragen konnte.
Und dennoch. Es musste sein.
Lenval presste die Lippen aufeinander, drehte sich um und schritt auf die Tür zu, die den Wohnraum von der kleinen Schlafkammer trennte. Verrina schien zu ahnen, was er vorhatte. Als er die Tür öffnete, verstummte ihr Schluchzen. Mit angstgeweiteten Augen folgte sie seinen Bewegungen, als er an das Bett trat. »Nein!« Schützend presste sie das Kind an ihre Brust, aber ihr fehlte die Kraft, sich ihm zu widersetzen.
Eine heftige Windböe bauschte seinen Umhang und trug Verrinas verzweifelte Schreie mit sich fort, als Lenval die Tür öffnete, nach dem Spaten griff und mit dem Bündel im Arm in die Nacht hinausstapfte.
Als er zurückkehrte, hatte der Wind seine Tränen getrocknet. Im Stillen dankte er Mar-Undrum für den Sturm, der rasch weiter zunahm und zur Mitte der Nacht seinen Höhepunkt erreichte. Das Rütteln und Zerren, Heulen und Pfeifen übertönte die bedrückende Stille im Haus. Und manchmal trug es ihm ein Geräusch zu, das ihn aufhorchen ließ und glauben machte, Caiwen läge noch in ihrer Wiege.
Schlaf fand er keinen.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden setzte der Regen aus. Der Wind wurde schwächer. Es wurde Zeit, die Suche zu beginnen. Erschöpft von den Ereignissen und der durchwachten Nacht, aber auch froh über die willkommene Ablenkung, erhob sich Lenval und machte sich bereit.
Ein kurzer Blick in die Schlafkammer zeigte ihm, dass Verrina eingeschlafen war. Rote Locken hingen ihr wirr ins Gesicht, das selbst im Schlaf von Trauer und Verzweiflung gezeichnet war. Für einen Augenblick fragte er sich, wie es weitergehen sollte, verdrängte die Gedanken jedoch sogleich wieder. Der Strand rief. Die Männer warteten sicher schon auf ihn. Alles andere musste warten, bis er zurückkehrte.
Leise öffnete er die Tür, nahm Axt und Spaten vom Haken und einen Sack zur Hand. Dann trat er in den erwachenden Morgen hinaus. Die Luft war nach dem Sturm salzig und frisch. Die Vorfrühlingssonne sandte ihre ersten Strahlen über den fernen Horizont und über dem Riff zogen die Felstölpel ihre Kreise. Ihre pfeifenden Rufe mischten sich mit dem Tosen der Brandung. Ein Blick hinunter ins Dorf zeigte ihm, dass sich die anderen Männer schon am Versammlungsplatz eingefunden hatten. Wie er waren
sie mit Säcken, Schaufeln, Seilen und Äxten ausgerüstet und schienen begierig, mit der Suche zu beginnen.
»Lenval, du Langschläfer, wo bleibst du denn?«, begrüßte ihn Borel, Verrinas Bruder, lachend. »Wenn wir nicht schnell genug unten sind, wird sich die Flut noch die besten Stücke holen.«
»Ach, lass doch den jungen Vätern ihren Schlaf«, rief Sicard gönnerhaft. »Seht nur, Emeric ist auch nicht viel schneller.« Er deutete auf die Hütte neben Lenval, deren Tür sich gerade öffnete. Lenval erwiderte nichts. Emeric war vor drei Schwarzmonden zum ersten Mal Vater geworden. Heylon, sein Sohn, entwickelte sich prächtig und war sein ganzer Stolz. Emeric lachte und machte einen Scherz. Er richtete das Wort auch an ihn, aber Lenval tat, als hörte er es nicht. Er hatte den anderen vom Tod seiner Tochter erzählen wollen, doch er konnte es nicht.
Später, dachte er bei sich, wenn ich meine Gefühle besser im Griff habe, wird sich schon noch eine Gelegenheit finden, es ihnen zu sagen.
Wie alle Männer der Riffinseln war auch Lenval dazu erzogen worden, vor anderen keine Schwäche zu zeigen. »Wir Piraten kennen keinen Schmerz«, lautete der Leitspruch, mit dem die Väter der Inseln ihre Söhne in Anspielung auf ihre raubeinigen Vorfahren erzogen. Auch Lenvals Urgroßvater war noch ein Pirat gewesen. Zusammen mit seiner Mannschaft war er auf der Flucht vor den Tamoyern als einer der Ersten auf das felsige Eiland gekommen. Der König der Tamoyer hatte den Freibeutern damals gnadenlos den Kampf angesagt. Die wenigen Piraten, die seine Häscher nicht gefangen und gehängt hatten, waren auf die Riffinseln vor der Küste geflohen und hatten dort eine winzige Kolonie gegründet.
Niemand auf dem Festland wusste, dass die Klippen vor der Küste besiedelt waren, und die Leute vom Riff sorgten dafür, dass das auch so blieb. So waren sie zu einem vergessenen Volk geworden. Zu einem Volk, das seinen Kindern die Furcht vor den
Tamoyern über Generationen hinweg in die Wiege gelegt hatte. Und auch wenn sie längst keine Freibeuter mehr waren, so genügten allein die Worte des verstorbenen Tamoyerkönigs, der noch auf
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