Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
seinem Wort, dennoch beobachtete er nervös den Abzug der Brochonier. Noch immer verstand er nicht völlig, wie es Norvan gelungen war, die Herrschaft über sein Volk an sich zu reißen, und er konnte sich nicht vorstellen, dass Baruk tatsächlich kampflos aufgeben würde. Julius wollte sich in diesen Streit nicht einmischen und so hoffte er, dass, sollte es zu einem erneuten Kampf kommen, dieser weit entfernt von Anoria stattfinden würde.
Es dauerte drei Tage, bis sich alle brochonischen Soldaten, die sich in diesem Teil des Landes aufhielten, versammelt hatten. Ängstlich und verstört beobachteten die Anorianer diesen Aufmarsch und sogar Julius, der wusste, dass ihnen keine Gefahr mehr drohte, fröstelte bei dem Anblick. Die Brochonier waren ihnen zahlenmäßig noch immer weit überlegen und sie hatten nichts von ihrem bedrohlichen Aussehen verloren. Als sie endlich in Richtung Küste losmarschierten, war die Erleichterung beinahe greifbar. Es schien, als würde sich der Schatten, der seit Beginn des Krieges auf jedem einzelnen Menschen in Anoria gelastet hatte, langsam heben.
Sibelius begleitete sie auf ihrem Weg zusammen mit einer kleinen Gruppe Kandari. Allerdings wurde Julius das Gefühl nicht los, dass der Heerführer der Kandari diese Aufgabe hauptsächlich übernommen hatte, um noch einmal einen Blick auf das Land werfen zu können, in dem er einst gelebt hatte.
Sobald der Waffenstillstand in Kraft getreten war, hatte Julius Boten ausgeschickt, die das Ende des Krieges in ganz Anoria verkünden und ihm über die Schäden berichten sollten. Endlich, am achtzehnten Tag des Monats kehrten die ersten Reiter zurück.
„Zweitausend Tote“, murmelte Julius und stützte den Kopf in beide Hände, „so viele …“, einen Augenblick lang herrschte absolute Stille im Thronsaal der Burg, während der junge König versuchte, seine Gedanken zu ordnen, „und das sind nur die Opfer des letzten Kampfes?“
Diese Frage galt Dalinius, der vor seinem Thron stand und auf ein Stück Papier in seinen Händen herabblickte. Ohne aufzusehen, nickte sein Freund, bevor er mit erzwungener Sachlichkeit antwortete: „Ja. Und dazu kommen noch einmal so viele Verletzte“, er seufzte, bevor er schließlich doch den Blick hob und Julius müde und tieftraurig ansah, „die Stadt war überfüllt, als uns die Brochonier angegriffen haben. Mehr als zehntausend Menschen haben sich innerhalb der Stadtmauer aufgehalten und jeder, der eine Waffe auch nur halten konnte, hat in der letzten Schlacht gekämpft. Und trotzdem ist die Zahl der Opfer dieses Gefechtes nur der Anfang. Ich fürchte, die Schäden, die der Krieg in Anoria hinterlassen hat, reichen bedeutend tiefer.“
Julius nickte nur und starrte mit sonderbar abgestumpftem Gesichtsausdruck an seinem Ratgeber vorbei. Er wusste, dass Dalinius recht hatte. Bisher konnten sie nicht ermessen, was dieser Krieg Anoria gekostet hatte.
Müde ließ er den Blick durch den Raum wandern. Auf einer Bank an der Längsseite der Halle saß Raphael im Schatten einer Säule. Sein rechter Arm steckte in einer Schlinge und im flackernden Licht der Fackeln wirkten die Narben der Brandwunden in seinem Gesicht entstellender als gewöhnlich. Er blickte auf seine Fußspitzen herab, ohne auf die Gespräche um ihn herum zu achten, aber Julius wusste, was ihn beschäftigte. Heute war einer der Boten aus den Wäldern zurückgekehrt mit der Nachricht, dass man den Fürsten von Terranien und seine Frau bisher nicht gefunden hatte, doch ein Gerücht behauptete, dass die Flüchtlinge, die sie in die Wälder geführt hatten, überfallen worden waren. Zwar bestand noch immer die Möglichkeit, dass es Überlebende gegeben hatte, doch Raffi schien nicht daran zu glauben, dass er seine Eltern wiedersehen würde. Einen Augenblick lang suchte Julius vergeblich nach Worten, aber es gab nichts, was er sagen könnte, um den Schmerz zu lindern. Und so wandte er den Blick schließlich ab und konzentrierte sich wieder auf Dalinius.
„Wie sieht es in den anderen Teilen Anorias aus?“
Dalinius wollte antworten, doch Eugen, der bisher schräg hinter Julius’ Thron gestanden hatte, ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Moment!“, er trat neben den obersten Ratgeber und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust: „Was wird aus meiner Stadt? Der untere Teil von Askana ist völlig zerstört, der Rest hoffnungslos verwüstet und die Lebensmittelvorräte sind fast aufgebraucht. Wer soll das alles wieder
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