Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
unwiderstehlich. Sie erinnerte sich später nicht mehr, was sie gesehen hatten: Ob es John Mills war oder Paul Muni. Sie saßen in der drittletzten Reihe, und er rührte sie nicht an. Er schien heimlich den Sitz vor sich zu reparieren. Erst hinterher, als sie in die brausende Januarnacht hinaustraten, küsste er sie plötzlich und drückte ihr einen Kinoaschenbecher in die behandschuhte Hand.
Am nächsten Tag rief sie Danny an und löste die Verlobung.
Es war ein Taifun, eine Flutwelle. Sie kam nicht dagegen an.
Drei Wochen später packte sie ihre Sachen und ging nach Stamford Hill. Sie fand ihn in der winzigen Küche vor, wo er Omelettes briet. Er rauchte beim Kochen. Er trug alte Hosen und ein zerschlissenes Unterhemd, und sie verliebte sich sofort in ihn, denn kein Mann, den sie kannte, war je in der Lage gewesen, Omelettes zu braten.
Viertes Kapitel
Als ich die Jaffa-Straße entlangeile, entdecke ich ihn, er schreitet zielstrebig aus in seinem langen Mantel und mit einem schwarzen Filzhut auf dem hoch gehaltenen Kopf. Ich habe vorher nie bemerkt, wie groß er ist. Erstaunlich. Er bewegt sich durch die Menschenmassen auf dem Gehweg wie ein Zauberwesen, wie eine königliche Hoheit aus einer anderen Zeit.
Es entpuppt sich als ziemlich schwierig, mit ihm Schritt zu halten. Ich weiche Karren und Pfützen aus, Kindern und Spaziergängern, renne gegen Laternenpfähle und in Bushaltestellen-Schlangen. Ich verliere ihn aus den Augen, dann taucht er wieder auf und geht in eine Seitenstraße, die nach Mea Shearim führt. Ich bleibe an der Straßenecke stehen, flitze hinüber und folge ihm. Er dreht sich nicht um. Er bemerkt mich nicht.
Ich frage mich: Was tust du da eigentlich? Was um alles in der Welt soll dieser Spionage-Unfug? Plötzlich muss ich kichern. Ich verschnaufe kurz, ich halte mir die Seite, hole Luft.
Er ist in ein schmuddeliges kleines Geschäft neben einem Lehrhaus gegangen; ein armseliger, schäbiger Laden mit verstaubten,
vergilbten Gebetbüchern in der Auslage, Kinderfibeln, fleckigen Gebetskäppchen und schwer verkäuflichen religiösen Artefakten. Vom Torbogen gegenüber aus kann ich so eben erkennen, wie er mit dem buckligen, grauhaarigen Ladenbesitzer spricht. Sie scheinen sich ausgiebig und angeregt zu unterhalten. Offensichtlich kennen sie sich gut. Der Ladenbesitzer greift unter die Theke und fördert einen Stapel Bücher zutage. Gideon blättert mit seinen eleganten Fingern durch eines. Der alte Herr klopft ihm freundschaftlich auf den Rücken.
Ein chassidischer Herr im Strejml mit Fuchspelz schiebt sich in dem Eingang an mir vorbei und wirft mir einen halb verdutzten, halb argwöhnischen Blick zu. Ich lächele unbeholfen zurück. Und tue so, als würde ich weitergehen. Als ich zu dem Geschäft zurücksehe, verlässt Gideon es gerade mit einem Stapel Bücher in der Hand. Ich warte im Schatten der Mauer, bis er verschwunden ist.
Ich beiße mir auf die Lippe, nehme meinen ganzen Mut zusammen, überquere die Straße und stoße die Tür zu dem Laden auf. Ein erschreckend lauter Summer kündet meine Ankunft an.
Der Laden ist innen nicht so klein, wie er von außen wirkte: Die Straßenfront ist schmal, aber der Raum führt weit nach hinten wie alle guten Buchhandlungen. Ich schaue an der Theke vorbei und stelle fest, dass Wände und Fußboden mit Hunderten von Buchrücken bedeckt sind: breite und schmale Buchrücken, farbige und dunkle, mit roten Buchstaben oder goldgeprägt, in hochwertigen Reihen oder einzeln dazwischengeschoben. Und alle warteten sie darauf, entdeckt zu werden. Ich sehe, dass es sämtlich religiöse Bücher sind; manche sind wunderschön. Alle verströmen diesen verlockenden Duft von neuer Bindung, frischer Druckerschwärze und Papier, diesen Duft, der dem im Morgengrauen
gepflückter Pilze ähnelt und der mich immer an ein Geschenk denken lässt; an Liebe. Das Letzte, was Daniel mir vor seiner Abreise gegeben hat, war ein Buch von Amichai.
Der Besitzer, der lesend hinter seiner Theke sitzt, ein großes, schwarzes Gebetskäppchen auf dem breiten Kopf, sieht mich überrascht an, begrüßt mich aber freundlich.
»Shalom. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte mich mal umsehen, wenn es geht.«
»Bitte. Herzlich willkommen.« Er deutet auf die Regale: eine weite, wohlwollende, einladende Geste.
Bei bemerkenswert guter Beleuchtung betrachte ich die Regale: Mit den Gedanken bin ich anderswo, mir klopft das Herz wegen meines Vorhabens, aber die Pracht vor meinen Augen
Weitere Kostenlose Bücher