Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
lenkt mich natürlich ab. Viele der Bücher erkenne ich: zahlreiche Heilige Schriften natürlich, hebräische Bibeln, Gebetbücher und spirituelle Ratgeber; winzige, hochwertige Psalter; Kommentare von Rashi und Ibn Esra; Unmengen von Mishnahs; gesammelte Werke von Maimonides. Der Sohar ist ebenfalls da und Bücher über die Kabbala; Saadiah Gaons Buch der Glaubensartikel und dogmatischen Lehren ; und eins, das ich schon lange lesen wollte, Jehuda Halevis Der Kusari - sein Buch über die Chasaren.
Ich hole es heraus und schlage es auf. Der Besitzer nickt mir zu. Er hat ein breites, freundliches Gesicht, kluge Augen, eine dicke, empfindsame Nase. »Viel zu lesen, nicht wahr? Man nennt uns nicht umsonst das Volk der Bücher.«
Ich gehe auf ihn zu.
»Eigentlich suche ich nach etwas Bestimmtem. Das Buch, das der Kunde vorhin mitgenommen hat - ich habe den Titel vergessen …«
»Das Hebräisch-Lehrbuch?«
»Oh! Das war das?« Ich bin irritiert.
Er greift unter die Theke. »Nein. Habe ich mir schon gedacht. Es ist keins mehr da. Er hatte es extra bestellt. Er nimmt sie mit zurück zu seinen Leuten, nach Baku.«
»Baku?«
»In Aserbaidschan. Da kommt er her. Am Kaspischen Meer.« Er betont das Wort Kaspisch , als wolle er es vom Mittelmeer oder der Sargassosee abheben. »Unter den Kommunisten waren hebräische Bücher ganz lange verboten.«
»Ehrlich? Das wusste ich gar nicht.«
»Deswegen nimmt er jetzt Lehrbücher mit, damit sie es lernen können.« Er schüttelt den Kopf. »Es ist so schade. Was für ein Volk. Haben Sie ihn gesehen? Wie ein Riese, ein Samson. Ein schejner Jid .«
»Er sticht auf jeden Fall heraus.«
»Das ist die Abstammung, das sage ich Ihnen. Haben die eine Ahnenreihe! Eine uralte Gemeinde. Über zweitausend Jahre alt. Manche sagen, sie stammen, Sie wissen schon, von den zehn verlorenen Stämmen ab. Andere meinen, von den Chasaren.« Wieder schüttelt er den Kopf. »Und jetzt sehen Sie bloß, was aus ihnen geworden ist. Tst! Zum Heulen. In Krasnaja Sloboda, wo seine Familie herstammt, hatten sie, bevor die Kommunisten kamen, elf Synagogen. Jetzt gibt es nur noch eine. Ist aber eine jüdische Stadt. Komplett jüdisch. Wenn der Shabbat anbricht, macht die ganze Stadt zu.«
»Erstaunlich.«
»Die Nazis sind nicht bis zu ihnen gekommen, Gott sei Dank! Und sie haben die ganze kommunistische Zeit über an ihrer Religion festgehalten, obwohl sie sich nicht mal an alles erinnern konnten. Sie haben ihre Söhne beschnitten. Sie haben nie vergessen, wer sie sind.« Er sieht, dass ich begierig zuhöre, und fährt fort: »Sie nennen sich selbst nicht immer Juden, manchmal nennen sie sich Juhuro. Bergjuden. Sie haben jahrhundertelang abgeschieden in den Bergen gelebt.
Ein stolzes Volk. Mit seinen eigenen Traditionen.« Er beugt sich vertraulich vor. »Wissen Sie was? Er zieht die Schuhe aus, wenn er eine Synagoge betritt. Das machen die Bergjuden so.«
»Faszinierend.«
»Sie nennen ihn Gideon. Gideon den Daniten. Wissen Sie, warum? Er sagt, seine Familie stammt von Stamm Dan ab.«
»Und glauben Sie ihm das?«
Der alte Mann zuckt mit den Schultern. »Wer weiß? Manchmal geht es nicht darum, wer man ist. Manchmal geht es darum, wer man zu sein glaubt.«
Ich schaue über die Schulter zurück zur Tür des Ladens, durch die mein geheimnisvoller Freund eben erst verschwunden ist: geheimnisvoll, jetzt ein bisschen weniger geheimnisvoll, und in anderer Hinsicht umso mehr. Und ich glaube, du hast Recht, alter Mann, da sagst du etwas Wahres. Vielleicht bist du weiser, als du glaubst.
»Also«, er legt die Hände auf die Theke, »soll ich Ihnen das Lehrbuch bestellen?«
»Oh - nein danke.« Ich lächle. »Ich brauche es eigentlich gar nicht. Aber ich nehme das hier.« Ich halte ihm Der Kusari hin. Er zieht die Augenbrauen leicht hoch, als wundere er sich über diesen Zufall. Er nimmt das Buch, staubt es ab und packt es ein. Das ist das Paradoxon meines Lebens: Dadurch, dass ich die Heilige Schrift lehre, bin ich in der Lage, ihr gegenüber nichts zu empfinden. Analysieren, auseinandernehmen, historisieren, ja, aber mit Abstand; es war nie persönlich. Jetzt hebt sich, wie eine Lavakruste, der Deckel von diesen langen Jahren der Unterdrückung.
Als ich aus dem Laden auf die graue, heruntergekommene, verlassene Straße trete, drücke ich mir das Päckchen an die Brust und spüre einen merkwürdigen Trost; es ist, als
ob ich einen Vorsatz fasse. Ich freue mich über meinen Kauf. Ich bin erfüllt von der
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